Extrem verfolgen

Regierungskritiker und kritische Journalisten werden in Russland immer wieder wegen extremistischer Straftaten und ähnlicher Vorwürfe verfolgt.

Symbolisch für die Verfolgung extremistischer Straftaten steht in Russland die Zahl 282. Dahinter verbirgt sich einer der umstrittensten Paragraphen des russischen Strafgesetzbuches, nämlich die Aufstachelung zum Hass, auf den bis zu sechs Jahre Haft stehen. Anders als bei Volksverhetzung im deutschen Strafrecht taucht im russischen Pendant der Begriff nicht näher definierter sozialer Gruppen auf, gegen die sich die Tat richten kann. Das führt zu einer willkürlichen Anwendungspraxis, was nicht allein die Anzahl an Urteilen belegt, sondern vor allem die Auswahl zur Last gelegter Verdachtsmomente. Als soziale Gruppe wertete die Staatsanwaltschaft in einem Fall sogar russische Armeeangehörige.

Heftige Kritik in der Öffentlichkeit führte Ende 2018 zu einer Reform des Gummiparagraphen. Nun muss der Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen eine nicht länger als ein Jahr zurückliegende Verurteilung wegen eines extra in den Kodex über administrative Rechtsverstöße eingeführten gleichlautenden Delikts vorangehen. Das heißt erstmalige Aufstachelung zum Hass gilt ab sofort als Ordnungswidrigkeit. Etliche Verfahren wurden eingestellt, aber von der Neuerung profitierten sogar bereits Verurteilte. So wurde einer der bekanntesten russischen Neonazis, Dmitrij Djomuschkin, in der vergangenen Woche vorzeitig aus der Haft entlassen.

Selten enden Verfahren zugunsten der Anklagten. Der bekannte rechte Permer Publizist Roman Juschkow landete im vergangenen Jahr zum wiederholten Mal wegen Verstosses gegen den Paragraphen 282 auf der Anklagebank. Anlass war ein Link in seinem Facebook-Account auf einen Text mit dem bezeichnenden Titel «Juden! Gebt den Deutschen ihr Geld für den Betrug mit dem Holocaust an sechs Millionen Juden zurück!» Darin heisst es, die Zahl ermordeter Juden könne einige Hunderttausend nicht übersteigen. Ein Geschworenengericht plädierte auf Freispruch. Die Staatsanwaltschaft, die Juschkow außerdem Rehabilitierung des National-Sozialismus vorgeworfen hatte, versuchte das Urteil anzufechten, scheiterte jedoch vor dem Obersten Gericht.

Das Informationszentrum SOVA vermerkt in seinem frisch veröffentlichten Jahresbericht für 2018 bereits einen leichten Rückgang von Strafverfahren aufgrund von Extremismusdelikten. Dazu zählen neben Paragraph 282 noch eine Reihe anderer Vergehen, wie beispielsweise Aufrufe zur Abspaltung von Russland. Vergangenes Jahr fielen Urteile gegen 283 Personen, der überwiegende Teil wegen Veröffentlichungen im Internet, ohne Rücksicht auf deren potentielle oder reale Wirkungskraft und der Größe der erreichten Leserschaft. In 49 Fällen kam es zu Haftstrafen. Gleichzeitig stieg die Anzahl administrativer Verfahren wie bereits in den Vorjahren weiter an, insbesondere wegen Verbreitens von Materialien extremistischen Inhalts und der Verwendung verbotener Symbolik, wozu das Hakenkreuz zählt. Auch hier blenden Gerichte den Kontext aus, so dass auch die Veröffentlichung historischer Fotos bei gleichzeitiger Verurteilung der NS-Ideologie strafbar ist. Gegen 4292 Personen wurden Strafen verhängt, meist handelte es sich um geringe Bussgelder.

Darüber hinaus wenden die Gerichte gerne weitere Maßnahmen an, die wegen Extremismus Verurteilte empfindlich treffen können. Dazu zählen Unterrichtsverbote für Lehrkräfte oder die Aberkennung des Rechts bei Wahlen anzutreten. Im Gebiet Twer verhängte ein Gericht gegen einen Mann, der sich im Netz negativ über Präsident Wladimir Putin geäußert hatte, ein Verbot Webseiten zu moderieren und ließ im gleichen Zug dessen Computer beschlagnahmen.

Weitaus härter trifft es die Zeugen Jehovas. Im April 2017 verfügte das Oberste Gericht über die komplette Auflösung aller ihrer in Russland existierenden Strukturen wegen extremistischer Tätigkeiten. Wobei der Grund wohl eher darin zu suchen ist, dass es sich um eine mit dem Ausland vernetzte Religionsgemeinschaft handelt. Über 20 Zeugen Jehovas befinden sich in Haft. Erst vor wenigen Tagen erfolgten erneut Festnahmen in der Stadt Surgut, wobei nach Angaben eines Anwalts gegenüber acht Personen bei der Erstvernehmung Foltermaßnahmen angewendet worden sein sollen. Dennis Ole Christensen, dänischer Staatsbürger und die letzten Jahre in Orjol ansässig, wurde Anfang Februar zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Eine neue Tendenz und gleichzeitige Verschärfung geltender Rechtspraxis zeichnet sich durch vermehrte Strafermittlungen wegen Rechtfertigung von Terrorismus ab. Wie dehnbar deren Auslegung ist zeigt der Fall der Journalistin Swetlana Prokopjewa aus Pskow. Sie suchte in einem Beitrag nach einem Erklärungsansatz für den Sprengstoffanschlag eines Studenten gegen den Inlandsgeheimdienst FSB in Archangelsk im vergangenen Oktober und machte den brutalen Umgang des Staates mit seinen Bürgern dafür verantwortlich.

Wenn es um die Blockierung extremistischer Inhalte im Internet geht, wird die zuständige Aufsichtsbehörde auch ohne Gerichtsbeschluss aktiv. Zehntausende Webseiten sind über das russische Internet nicht mehr zugänglich, aber mit ein wenig technischem Geschick lassen sich zumindest diese Verbote einfach umgehen.

ute weinmann

Jungle World

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