Stalinforscher im Straflager

Eigentlich erforscht Jurij Dmitrijew die repressiven Seiten sowjetischer Herrschaft. Längst aber ist er selbst zu einem Objekt der postsowjetischen russischen Strafmaschinerie geworden. Vergangene Woche hob das Oberste Gericht der Region ­Karelien ein vergleichsweise mildes Urteil der unteren Instanz gegen ihn auf und verurteilte ihn zu 13 Jahren Straflager.

Ende 2016 wurde der Historiker wegen des ­Verdachts auf Herstellung von Kinderpornographie festgenommen, 2018 wurde er freigesprochen, aber wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt. Darauf folgten nach einer Anzeige Ermittlungen ­wegen sexueller Gewalt gegen Minderjährige. Im Juli verurteilte das Stadtgericht von Kareliens Hauptstadt Petrosawodsk Dmitrijew zu dreieinhalb Jahren Haft, was weit unter dem Mindeststrafmaß liegt. Dmitrijew, so die Anklage, soll seine Pflegetochter – die er unterernährt aus einem Kinderheim geholt hatte – im Alter von drei bis sechs Jahren nackt fotografiert haben. Er sagte, er habe ihren Gesundheits­zustand dokumentieren wollen, um sich vor dem Jugendamt abzusichern. Hätte das Oberste Gericht das Strafmaß nicht erhöht, hätte er seine Strafe im ­November abgesessen gehabt.

In seiner Kindheit verbrachte Dmitrijew selbst eine Zeit lang in einem Kinderheim, bevor er adoptiert wurde. Noch zu Sowjetzeiten machte er nach einer Schlägerei erste Gefängniserfahrungen. Seit über 30 Jahren widmet er sich der Aufarbeitung des Stalinismus in Karelien. In akribischer Arbeit suchte er nach Spuren Tausender in den dreißiger und vierziger Jahren ermordeter Opfer des stalinschen Terrors und wurde im Wald von Sandarmoch fündig. Historische Aufarbeitung lange tabuisierter Verbrechen war für betroffene Familien damals ein Akt der Befreiung, inzwischen ist sie ein Politikum. Dass in den Massengräbern von Sandarmoch die Überreste von Gefangenen des ersten sowjetischen Sonderlagers auf den nördlicher gelegenen Solowezki-Inseln im Weißen Meer liegen, wirft unangenehme Fragen auf. Die Russische Militärhistorische Gesellschaft favorisiert nach neuesten Ausgrabungen die Version, es handele sich um eine Grabstelle von Soldaten der Roten Armee.

ute weinmann

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