Das politische Establishment in Rußland geht gegen die Überreste der anarchistischen Linken vor
Wenn ein Wolf heult, fallen auch die anderen mit ein, behauptet ein russisches Sprichwort. Einer von denen, deren Gejaul sich nicht überhören läßt, ist Nikolai Ignatjewitsch Kondratenko, seines Zeichens KPRF-Mitglied und Gouverneur im südrussischen Krasnodar, der sich in vor allem durch seine Nähe zu rechtsextremen und paramilitärischen Gruppen wie beispielsweise der RNE (Russische Nationale Einheit) und seinen zur Schau getragenen Antisemitismus hervorgetan hat.
Nachdem der Kreml im vergangenen Herbst dem politischen «Extremismus» den Kampf angesagt und Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow gar eine Großveranstaltung der RNE verboten hatte, fühlte sich Kondratenko offenbar genötigt, ebenfalls an diesem Kampf teilzuhaben und Erfolge vorzuweisen — wenn auch nicht gegen die Rechte — und sich im gleichen Zug als Opfer einer «Verschwörung internationaler zionistischer Zentren» zu präsentieren. So lassen sich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Zu Hilfe kam «Väterchen Kondrata» dabei Ende November letzten Jahres die Festnahme von drei jungen Leuten aus dem anarchistischen Spektrum im Zentrum von Krasnodar, Gennadij Nepschikujew, Maria Randina und Jan Musil, einem Tschechen, der wenige Tage später des Landes verwiesen wurde. In Nepschikujews Rucksack wurde selbstgebastelter Sprengstoff gefunden, der aus zwei Granaten, einem Glas mit Salpeter und einem Wecker bestand. Die Tatsache, daß kein Zündmechanismus vorhanden war und so manch andere Ungereimtheiten spielten da schon keine Rolle mehr — Kondratenko nutzte seine Chance, indem er verkündete, Terroristen hätten einen Anschlag auf ihn geplant, und erklärte die folgenden Ermittlungen zur Chefsache.
Anfang Februar fanden erste Hausdurchsuchungen und Verhöre in Moskau statt, in deren Verlauf die damals im dritten Monat schwangere 25jährige Larisa Schiptsowa verhaftet wurde. Sie wurde, von bis an die Zähne bewaffneten Angehörigen der Sondereinheit «Alpha» bewacht, nach Krasnodar in das Sondergefängnis des russischen Geheimdienstes FSB (vormals KGB) überstellt.
Der Vorwurf gegen alle drei lautete Herstellung, Besitz und Transport von Sprengstoff sowie Terrorismus; den letzten Punkt mußte die Anklage allerdings aus Mangel an Beweisen wieder fallenlassen. Aus demselben Grund wurde Maria Randina im April freigelassen und figurierte im folgenden nur noch als Zeugin.
Im übrigen stand das gesamte Verfahren auf wackeligen Füßen, basierte es doch im wesentlichen auf den weitläufigen, in sich aber widersprüchlichen Aussagen des 19jährigen Umweltaktivisten Nepschikujew. Der gestand bald nach seiner Festnahme, Anschlagspläne gegen Kondratenko gehegt zu haben, angestiftet von Schiptsowa.
Daraufhin zogen die Ermittlungen immer größere Kreise und weiteten sich schließlich auf diverse anarchistische, antifaschistische, Anti-AKW-Organisationen aus. Bei zahlreichen Hausdurchsuchungen im Süden Rußlands, in Moskau und im Gebiet Twer wurden ganze Archive und anderes umfangreiches Material beschlagnahmt. Die wiederholten Einschüchterungsversuche des FSB gegenüber allen Beteiligten erinnerten immer mehr an alte Zeiten.
Das Verfahren hatte es in sich. Die schwangere Schiptsowa, die zudem ein herzkrankes Kleinkind hat und wegen mangelhafter Ernährung und medizinischer Versorgung erheblich an Gewicht verlor sowie an Nierenschädigungen litt, ist gegen russisches Recht bis zum Ende der Ermittlungen Anfang Juni dieses Jahres inhaftiert geblieben. Die Verteidigung wurde in ihrer Arbeit massiv behindert, was sogar so weit führte, daß einer der Anwälte noch vor Prozeßbeginn von FSB-Beamten zum laufenden Verfahren verhört wurde. Zudem wurden illegal aufgezeichnete Videobänder über ihn in das Verfahren eingebracht. Offenbar sollte der mißliebige Anwalt aus Moskau aus dem Verfahren gedrängt werden, indem ihm politische Nähe zu seiner Mandantin unterstellt wurde.
Trotz des Verlaufs der Ermittlungen und der Kampagnen in der lokalen Presse gegen die Angeklagten rechneten die Anwälte mit Bewährungsstrafen. Es kam jedoch anders. Nach nur drei Verhandlungstagen fällte das Gericht am 20. Juli in Krasnodar sein Urteil: vier Jahre Arbeitslager für Larisa Schiptsowa, die außerdem wegen Drogenbesitzes angeklagt war, und drei Jahre für Gennadij Nepschikujew. Ohne die Intervention des Gouverneurs wäre es wohl kaum so hart ausgefallen. Für ein politisches Urteil spricht überdies eine Passage aus der Anklageschrift, in der die Rede ist von einer «nichtregistrierten anarcho-kommunistischen Gruppe», der die Beschuldigten angeblich angehörten, was allein schon für deren verbrecherische Absichten spreche.
Inzwischen beginnt man auch in Moskau über den Nutzen derartiger Verfahren im politischen Intrigenspiel der Eliten nachzudenken. Dafür wird gar das beliebte Bild des unfaßbaren inneren Feindes wiederbelebt, der bekämpft werden müsse. Schließlich stehen Wahlen bevor, die Duma-Wahlen noch in diesem Jahr und die Präsidentschaftswahlen im Sommer 2000. Bereits seit geraumer Zeit wird über die Möglichkeit spekuliert, den Ausnahmezustand auszurufen, um die Wahlen zu verhindern oder zumindest aufzuschieben. Und in der Tat wäre es nicht schwer, einen Vorwand dafür zu finden, um die Bevölkerung vor die Unlösbarkeit der gegenwärtigen Krise mittels auch nur halbwegs demokratisch-parlamentarischer Vorgehensweisen zu stellen.
In jedem Fall aber braucht man auch ein paar Erfolgserlebnisse im Kampf gegen das Böse. Und die verschafft sich Moskaus Führung leichter, indem sie einen gefährlich scheinenden, alles in allem aber harmlosen Feind ausgräbt — die versprengten Reste der anarchistischen Linken.
Der Krasnodarer FSB hatte bereits gute Vorarbeit geleistet, jetzt mußte man nur noch daran anknüpfen. So begann nach der Urteilsverkündung noch in der gleichen Woche in Moskau eine neue Welle von Verhören und Hausdurchsuchungen, auch in Schiptsowas Wohnung. Betroffen sind dieses Mal sogar Personen ohne unmittelbaren Bezug zur Linken.
Als formaler Anlaß dient u.a. ein Anschlag, der Anfang April dieses Jahres auf ein Gebäude des FSB in der Moskauer Innenstadt verübt wurde. Die Presse beschuldigte damals bereitwillig eine Gruppe, die in den Jahren 1995 und 1996 unter dem Namen Neue Revolutionäre Alternative recht dilettantische Anschläge mit geringem Sachschaden in erster Linie gegen Armee-Einrichtungen verübte. Die Umstände des Anschlags im April legen jedoch die Vermutung nahe, der FSB könnte selbst daran beteiligt gewesen sein.
Die anarchistische Linke begründete in einer gemeinsamen Erklärung ihre ablehnende Haltung gegenüber derartigem Handeln. Wie es aussieht, wird ihr das aber wenig nützen.
Ute Weinmann