Im russischen Duma-Wahlkampf spiegelt sich das gesellschaftliche Desaster wider.
von Ute Weinmann und Wladimir N. Popow
Die Aktion traf den Nerv des russischen Wahlkampfs. Vergangenen Donnerstag erklommen fünf junge Leute die Ehrentribüne auf dem Lenin-Mausoleum — den Platz, wo in alten Zeiten die sowjetischen Oberbürokraten die Militärparaden auf dem Roten Platz in Moskau an sich vorbei defilieren ließen — und entrollten ein Transparent. »Gegen alle« stand darauf — gegen die Politiker und die Parteien, die am nächsten Sonntag in die Duma gewählt werden wollen.
Nach einer Minute wurde das Transparent von einem Polizeioffizier entfernt. Aber die offenbar gut vorbereitete Aktion wurde gefilmt und das Material von den großen Fernsehkanälen ausgestrahlt — was kaum geschehen wäre, hätte sich die Aktion gegen den Krieg in Tschetschenien gewandt, der weitgehend Zustimmung in der Bevölkerung und im politischen Establishment findet.
Krieg und Schlammschlachten — so lässt sich in zwei Worten der Wahlkampf zusammenfassen. 26 Parteien und politsche Vereinigungen rangeln nach dem Verhältniswahlrecht um die eine Hälfte der 450 Duma-Sitze, mehr als 2 300 Kandidaten um die restlichen 225 Direktmandate. Das Parlament ist in dem russischen Präsidialsystem weitgehend machtlos, und die Abgeordneten sind aus Furcht vor dem Verlust ihrer Mandate zahm. Dies zeigte sich in der laufenden Legislaturperiode immer wieder, wenn die Abgeordneten Jelzins Kandidaten für den Posten des Premiers akzeptierten; schließlich hat der russische Präsident die Befugnis, ein aufmuckendes Parlament aufzulösen.
Vor allem jedoch haben die Duma-Wahlen eine Funktion: Sie dienen den Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Juni als Barometer für ihre Wahlaussichten. Beste Aussichten, als stärkste Fraktion aus den Wahlen hervorzugehen, hat die KP von Gennadi Sjuganow, der als Präsidentschaftsanwärter in den jüngsten, allerdings wenig zuverlässigen Umfragen mit 17 Prozent auf Rang zwei hinter Premier Wladimir Putin rangiert. Gegen den vom Kreml designierten Jelzin-Nachfolger und entschlossenen Tschetschenien-Krieger allerdings wird er keine Chance haben; Putin kann für sich 45 Prozent verbuchen.
Für den Kreml hat Sergej Schoigu, Minister für Katastrophenhilfe, im Herbst die Bewegung »Einheit« aus dem Boden gestampft. Premier Putin hat schon angekündigt, für sie zu stimmen. Die Bewegung hat den Spitznamen »Bär«, und auf ihren Wahlplakaten würgt das russische Symboltier den tschetschenischen Wolf. Die ehemals im Westen als Reformer gerühmten Anatoli Tschubais, Jelzins ehemaliger Chefprivatisierer, und Boris Nemzow, Ex-Premier, haben sich in der »Union rechter Kräfte« zusammengeschlossen. Tschubais brillierte gerade mit der Parole, wer Kritik am Krieg in Tschetschenien äußere, sei ein Verräter. Ob die Union über die Fünf-Prozent-Hürde kommen wird, ist allerdings zweifelhaft.
In dem im August gegründeten Wahlblock »Vaterland-Ganz Russland« haben sich der Ex-KGBler und Ex-Premier Jewgenij Primakow sowie Juri Luschkow, der Moskauer Bürgermeister mit der harten Hand, verbündet. Der Block tritt für stärkere staatliche Regulierung der Wirtschaft ein, und Primakow wie Luschkow dürften für den Kreml die härteste Konkurrenz bei der Nachfolge Jelzins im nächsten Jahr darstellen.
Und das ist überaus wichtig. Zum einen brauchen Jelzin und seine »Familie« Protektion — vor möglicher strafrechtlicher Verfolgung unter einem ihnen nicht günstig gesonnenen Premier. Und für das wirtschaftliche Establishment, das in mafiose Auseinandersetzungen verstrickt ist, ist der unmittelbare Zugang zum Kreml, dem Zentrum der politischen Macht, essenziell für gute Geschäfte.
So erstaunt es nicht, dass zwischen Kreml und »Vaterland-Ganz Russland« die Schlammschlacht am heftigsten tobt. Der Kreml versäumt keine Gelegenheit, mittels der beiden großen staatlichen TV-Sender ORT und RTR und den von dem Jelzin nahen Multi-Milliardär Boris Beresowski kontrollierten Medien die Konkurrenten Primakow und Luschkow mit kompromat — kompromittierendem Material — einzudecken. Primakow habe einen Anschlag auf den georgischen Präsidenten Schewardnadse veranlasst, Luschkow stecke hinter dem Mord an einem US-Geschäftsmann, kolportierte nach Angaben der NZZ beispielsweise der von »Beresowski besoldete ORT-Journalist Dorenko«.
Anfang Dezember schlug Primakow zurück. Der Kreml-Mitarbeiter Alexander Malmut habe einem Kandidaten von »Vaterland« umgerechnet fast 200 000 Mark bezahlt, damit dieser aus dem Wahlblock austrete und bei den Wahlen nicht kandidiere. Die Form der Politik entspricht dem desaströsen Zustand der russischen Gesellschaft. Charakteristisch für die brutalisierte Stimmung war Anfang Dezember die Geste des Rechtsextremen Wladimir Schirinowski, der am Ende einer Fernsehdiskussion mit Nemzow seine Pistole auf den Tisch legte.
Anders als heute fanden sich vor fünf Jahren, als russische Truppen das erste Mal in Tschetschenien einmarschierten, genügend Kritiker, um einen öffentlich sichtbaren Protest zu organisieren. Spätestens nach Eintreffen der ersten Zinksärge mit den Leichen junger Soldaten zeigten auch jene Teile der Bevölkerung ihren Missmut, die die ersten militärischen Aktionen noch begrüßt haben mochten. Damals war ihm, wollte er seine Wiederwahl nicht gefährden, nichts anderes übrig geblieben, als schnellstens auf jedem nur erdenklichen Weg einen Friedensschluss anzubahnen.
Zwischen damals und heute liegen allerdings mehrere Regierungswechsel, die Fortsetzung des wirtschaftlichen Niedergangs und nicht zuletzt einige Bombenanschläge mit Todesopfern in der Hauptstadt. Die Bevölkerung rief nach Ordnung und bekam sie in Gestalt von Premier Putin, der einen erneuten Krieg in Tschetschenien möglich machte. Dafür stieg Putins Beliebtheit in der Bevölkerung rasant nach oben. Dieses Mal besteht in Übereinstimmung mit der Regierungspropaganda in weiten Kreisen ein Konsens, wonach es sich um gar keinen Krieg handele, sondern lediglich um einen Kampf gegen bewaffnete Banden und Terroristen.
Vor diesem Hintergrund können die wenigen verbliebenen Kriegsgegner aus dem linksliberalen Spektrum auch bei noch so bescheidenen Protestaktionen mit keinerlei Sympathien rechnen. Gelegentliche öffentliche Kundgebungen antifaschistischer, antimilitaristischer Gruppen und diverser Menschenrechtsorganisationen werden in den Massenmedien systematisch ignoriert und enden zum Teil bereits nach wenigen Minuten mit Festnahmen durch die Miliz.
Orte, die dazu dienen könnten, Protest zu artikulieren, sind rar. So lehnen es beispielsweise die Organisatoren des am Freitag begonnenen Moskauer Menschenrechts-Filmfestivals »Stalker« ab, dass dort durch Flugblätter auf Aktionen gegen den Krieg verwiesen wird. Man fürchtete »Provokationen«, hieß es. Die Nesawissimaja Gaseta schlagzeilte in ihrer Ausgabe vom vergangenen Freitag gar: »Russland braucht Schutz vor den Menschenrechtlern«.
In einer solchen Situation fällt den meisten Kriegsgegnern — z.B. der von Sacharow 1988 gegründeten Menschenrechtsorganisation Memorial — schließlich nichts Besseres ein, als sich an den Westen um Hilfe zu wenden. Ob nun die Uno oder die OSZE, jemand möge doch bitteschön eingreifen.
Doch die westlichen Staaten, die diese Gremien dominieren, haben die Situation entscheidend mitverursacht — sei es mit der von westlichen Beratern angeleiteten katastrophischen Modernisierung Russlands, sei es durch die jahrelange uneingeschränkte Unterstützung von Jelzin, der als Bollwerk gegen »den Kommunismus« galt und seinen diktatorischen Politikstil mit westlicher Rückendeckung entwickelte: mit der rücksichtslos vorangetriebenen Nato-Ost-Erweiterung, komplettiert durch den wachsenden westlichen Einfluss im Transkaukasus; mit dem Krieg gegen Jugoslawien, der die Bedeutung Russlands auf dem Balkan fast auf Null reduzierte und dem Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu neuer Popularität verhalf.
Dass ausgerechnet Jelzin dem Westen vergangene Woche mit Atombomben drohte, ist da nur ein weiterer makabrer Scherz.