Der russische Präsident Putin hat sich die Unterstützung der orthodoxen Kirche gesichert. Die Geistlichkeit will mit staatlicher Hilfe ihren Einfluss stärken.
Niemand bezweifelt, dass Wladimir Putin im März erneut zum Präsidenten Russlands gewählt werden wird. Dennoch kann es nicht schaden, Gott im Wahlkampf mit sich zu wissen. So sicherte Putin sich die Unterstützung der orthodoxen Kirche, die Anfang Februar zusagte, sein Programm zur Privatisierung des Rentensystems zu unterstützen. »Priester müssen den Leuten den Kern der Reform erklären, damit die älteren Menschen nicht verängstigt werden«, erläuterte Erzbischof Ioann seine Unterstützung für die Putin-Rente.
Einmal mehr erweist sich die Kirche als treue Dienerin des Obrigkeitsstaates und folgt einer Tradition, die durch die Oktoberrevolution nur kurz unterbrochen wurde. Vor der Revolution sollen nach mündlicher Überlieferung allein in Moskau »40 mal 40« Kirchen existiert haben. Staat und Kirche bildeten seit Zar Peter I. eine Einheit, denn dieser schuf im Jahr 1700 per Dekret das Patriarchenamt, beendete damit die Unabhängigkeit der russisch-orthodoxen Geistlichkeit und setzte eine dem Staat unterstellte Kirchenführung ein.
Geistliche waren verpflichtet, über jegliche noch so geringfügigen Anzeichen von Verschwörungen gegen den russischen Imperator Rapport zu leisten. Nach der Oktoberrevolution erhielt die Kirche ihren Patriarchen zurück, allerdings wurde ihr Handlungsspielraum auf ein Minimum begrenzt und ihr gewaltiges Vermögen als Volkseigentum deklariert. Orthodoxe Geistliche gehörten zu den Insassen der ersten sowjetischen Lager.
Die Wende trat 1943 während des »Großen Vaterländischen Krieges« ein, als sich Stalin im Zuge der Mobilisierung aller Bevölkerungsschichten und gesellschaftlichen Kräfte mit der Kirchenführung verbrüderte und sie formal der Staats- und Parteiführung gleichstellte. Doch die aktive Zusammenarbeit zwischen Kirche und Sowjetregierung begann bereits in den zwanziger Jahren, nachdem die Geistlichkeit das »bolschewistische Regime« öffentlich anerkannt hatte.
Der Staat kontrollierte alle Ebenen der Kirchenhierarchie, vom Patriarchen bis zum einfachsten Novizen. Die Aufnahme in eines der drei Priesterseminare und die geistliche Akademie erfolgte nach strengsten Auswahlkriterien des KGB. Deshalb besteht der heutige Leitungsapparat der russisch-orthodoxen Kirche sämtlich aus geprüftem Personal. So ist es kein Wunder, dass sich in den wenigen der Öffentlichkeit zugänglichen Archivunterlagen aus dem Fundus des KGB Nachweise über die vormalige Agententätigkeit des amtierenden Patriarchen Alexij II. befinden.
Britische Forscher haben nach eingehender Durchsicht von Dokumenten aus dem ehemaligen KGB-Archiv in Estland festgestellt, dass Alexij II. 1958 unter dem Decknamen »Drozdow« als KGB-Agent angeworben wurde und als zuverlässiger Informant galt. Nun gilt die Mitarbeit beim Inlandsgeheimdienst, der auch Putin seine Karriere verdankt, im heutigen Russland weniger als Makel denn als Qualifikation. Die Kirche muss sich somit nicht mit der lästigen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit abmühen, und nur in den seltensten Fällen wird dieses Thema überhaupt Gegenstand in der Berichterstattung der Medien.
Als im vergangenen Jahr ein in ungewöhnlich heftiger Manier ausgetragener Streit um die Nachfolge des Patriarchen entbrannte, diente die frühere KGB-Tätigkeit eines der Hauptanwärter auf den prestigereichen Posten jedoch erstmals als Anlass für Kritik. Doch ist dies weniger der Einsicht der orthodoxen Kirchengrößen geschuldet als dem Umstand, dass der Machtkampf in den eigenen Reihen jedes Mittel recht und billig erscheinen lässt.
In den neunziger Jahren beschränkte sich die orthodoxe Führung auf eine relativ geringe Anzahl an öffentlichen Stellungnahmen zu gesellschaftspolitischen Fragen, indes bahnte sich zum Ende der Jelzin-Ära ein Wandel an. Mitte 1999 erschien in der Zeitung Nezavisimaja Gazeta eine Reihe programmatischer Texte des Patriarchen Alexij und des Metropoliten Kirill, welche die Grundlagen einer Sozialkonzeption der orthodoxen Kirche formulierten. Darin heißt es, dass die Kirche liberale, gemeint sind westliche, Weltanschauungen wegen deren Areligiosität und dem deutlichen Hang zum Individualismus verurteilt. Immerhin erkennt sie deren Existenzrecht an, doch als globale Norm seien sie nicht zu akzeptieren. Es wird darauf hingewiesen, dass »traditionelle« religiös fundierte Weltanschauungen wie der Islam oder die Orthodoxie außerhalb des Westens viel tiefer verwurzelt seien und eine adäquatere Antwort auf die heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen darstellten. Ausgehend davon konstruieren die orthodoxen Ideologen einen kulturell-religiösen Kampf um die Wertevorherrschaft im globalen Kontext. Globalisierung bedeute demnach die Expansion einer wie auch immer gearteten säkularen Zivilisation gegen alle anderen. Das gelte es jedoch zu verhindern.
Diese ideologische Haltung birgt Potenziale für die russische Staatlichkeit, die auch der Regierung nicht verborgen blieben. Wenngleich die Kirche in ihrer politischen Bedeutung längst nicht an oberster Stelle steht, begann der Regierungsapparat nach und nach mit einer systematischeren Einbindung der Orthodoxie in seine Selbstdarstellung. Gleichzeitig taucht die russisch-orthodoxe Kirche in der nationalen Sicherheitskonzeption aus dem Jahr 2000 im Unterschied zu der vorherigen Fassung nicht mehr auf, allerdings findet deren Auffassung von der globalen Bedrohung Russlands durch radikale muslimische Tendenzen Berücksichtigung. Dass die Kirchenoberen die russische Haltung im Tschetschenienkrieg unterstützen, ergibt sich in diesem Kontext von selbst.
Den programmatischen Aussagen sollen nunmehr aber endlich Taten folgen. Die Angabe des Patriarchen, dass etwa 75 Prozent der Bevölkerung Russlands dem orthodoxen Glauben anhängen, ist nur eine Wunschvorstellung. Tatsächlich sind es höchstens 30 Prozent. Um eine bestimmende Rolle im Staatswesen auszuüben, müssen neue Mitglieder geworben werden. Unlängst schlug Bildungsminister Wladimir Filippow auf Initiative der Kirche vor, die »Grundlagen der orthodoxen Kultur« zum Bestandteil der Schulbildung zu machen.
Auf einer gemeinsamen Konferenz im Januar formulierte sein Stellvertreter nach einer Rede über den angeblichen geistigen Verfall der westlichen Kultur die Motive für das großzügige Entgegenkommen der Staatsdiener. Es gebe zwei grundsätzliche Fragen, behauptete er, nämlich die nach dem Schuldigen und die nach dem »was tun?«. Die erste sei dem Rechtgläubigen fremd, er frage nicht nach den Schuldigen für Missstände, er trage schließlich nur die Schuld für die Erbsünde in sich. Und die zweite stelle sich niemandem, der das Neue Testament gelesen habe. Kurz gesagt, der loyale Gläubige stellt keine Fragen, er ist der perfekte gefügige Untertan.
Ute Weinmann