Der Kampf ums Überleben bestimmt den Alltag in Russland — ein Stimmungsbericht im Vorfeld der Wahl
Es gibt Länder, da toben vor den Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen heisse Kämpfe um den besten Wahlslogan, die beste politische Intrige, das fernsehtauglichste Gesicht, in selteneren Fällen werden sogar inhaltliche Debatten geführt. Stimmenfang nennt man das. Es gibt andere Länder, da gelten solche Anstrengungen als überflüssig, lenken sie doch vom viel bedeutenderen politischen Tagesgeschäft ab. Demnach fängt man dort keine Stimmen, sondern bekommt sie, oder, im Zweifelsfalle, nimmt man sie sich. Sie stehen dem Sieger ja sowieso zu, noch dazu, wo dieser schon im Amt ist. Der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko hat unlängst geäussert, dass sich für das Präsidentenamt eigentlich nur Personen mit einschlägiger Erfahrung in dem Beruf eignen. Sein russischer Kollege Wladimir Putin hegt vermutlich ähnliche Gedanken, nur behält er sie aufgrund seiner professionellen Zurückhaltung für sich. In Russland dürfen auch unerfahrene Neulinge für den höchsten Staatsposten kandidieren, Russland ist schliesslich, so hört man immer wieder, ein Staat mit demokratischer Verfassung.
Nach dem Desaster bei den Wahlen zur Staatsduma im vergangenen Dezember erklärte sich aus dem liberalen Spektrum nur eine Politikerin bereit, sich für einen aussichtslosen Wahlkampf herzugeben. Irina Chakamada entschloss sich zur Kandidatur ohne die Unterstützung ihrer Partei, der Union der Rechten Kräfte (SPS). Der wohl bekannteste russische Liberale und Jabloko-Chef Grigorij Jawlinskij, der bislang an allen Präsidentschaftswahlen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion teilgenommen hatte, verwarf eine Kandidatur mit Verweis darauf, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine freien Wahlen zu erwarten seien. Chakamada indes beabsichtigte die erhoffte Medienpräsenz für sich zu nutzen. Sie wirft Präsident Putin autoritäres Verhalten und die Schaffung einer «Atmosphäre der Angst» vor. Die Kritik wird im Kreml zwar nicht gern gehört, aber gerade während des Wahlkampfes stellt die politische Führung schliesslich ihre Demokratiefähigkeit unter Beweis. Damit die Wahlen noch um einen Hauch demokratischer ablaufen, erklärte der Vorsitzende des russischen Föderationsrates, Sergej Mironow, seine Kandidatur ohne Scheu mit der Absicht, den Präsidenten nicht im Stich lassen zu wollen. Es sei wichtig an dessen «Seite zu stehen».
Weiters kandidiert Sergej Glazjew, der vor einem Jahr als Hoffnungsträger einer sozial orientierten Politik ins Rampenlicht trat und bei den Dumawahlen auf Kosten der Kommunistischen Partei Russlands (KPRF) für den unverhüllt vom Kreml geschaffenen volkspatriotischen Block «Rodina» («Heimat») 9% der Stimmen einheimsen konnte. Anstatt ursprüngliche Überlegungen hinsichtlich eines Wahlboykottes in die Tat umzusetzen, stellte die KPRF Nikolaj Charitonow als ihren Kandidaten auf. Gennadij Sjuganow, vormals das Gesicht der Partei schlechthin, musste nach dem herben Stimmenverlust im Dezember einsehen, dass seine Zeit als der ewig Zweite beim Run auf den höchsten Staatsposten endgültig abgelaufen ist. Auch der rechtspopulistische Politclown Wladimir Zhirinowskij, der inzwischen zum stellvertretenden Dumavorsitzenden avanciert ist, verzichtete auf seine Kandidatur zugunsten seines ehemaligen Bodyguards und früheren Boxers Oleg Malyschkin. Selbst der ehemalige Oligarch und bekannteste Politemigrant Russlands der Gegenwart, Boris Beresowskij, ist mit einem Kandidaten vertreten, nämlich mit Iwan Rybkin von der Partei «Liberales Russland».
Rybkin eilte der Ruf eines Politikers voraus, dem jegliche privaten und politischen Eskapaden fremd waren, bis er Anfang Februar plötzlich für mehrere Tage zunächst spurlos verschwand. Kurz zuvor ging er mit Aussagen an die Öffentlichkeit, die Putins Machenschaften bei der Umverteilung von Staatsvermögen unter Beweis stellen sollten. Jener soll ähnlich wie seiner Zeit Boris Jelzin eine «Familie» bestehend aus engsten Vertrauten aus dem Grosskapital um sich geschart und deren Business aus Eigeninteresse begünstigt haben. Rybkin tauchte mehrere Tage nach seinem Verschwinden in Kiew auf, wo er nach seinen eigenen völlig diffusen Angaben «einfach nur ein paar Tage ausspannen» wollte, kurz darauf hiess es ihm sei ein Treffen mit dem tschetschenischen Separatistenführer Aslan Maschadow versprochen worden. Bei seiner Rückkehr nach Moskau erweckte er den Eindruck als sei er alles andere als zurechnungsfähig. Er sei entführt und unter Drogen gesetzt worden, hiess es später aus seiner Londoner Zuflucht, doch mag ihm nun niemand mehr so recht glauben schenken. Der dem Kreml unliebsame Kandidat schied somit faktisch aus dem Rennen.
Nun stehen zwar eine Reihe von Kandidaten und eine Kandidatin zur Auswahl, aber von Wahlkampfstimmung existiert kaum eine Spur. «Für wen stimmst Du bei Putins Wahl?» scherzt, wer sich überhaupt für die Veranstaltung interessiert. Dass Mitte März Präsidentschaftwahlen stattfinden sollen, entnimmt der Normalbürger aus den aufdringlichen Werbespots der Wahlkommission, die zur Stimmabgabe auffordern. Putin selbst hatte von Anfang an erklärt auf Wahlwerbung verzichten und an keinerlei Fernsehdebatten teilnehmen zu wollen. Letzteres nimmt kaum Wunder, gehören Livedebatten ohne Script nicht gerade zu den Stärken des ehemaligen FSB-Chefs. Aber so zu tun, als verzichte Putin auf Werbung, wo im Fernsehen ausser seiner Wenigkeit kaum jemand derart detailliert demonstrieren darf, welch vermeintlichen Nutzen er der russischen Gesellschaft bringt, wirkt zwar auf den ersten Blick paradox, stellt tatsächlich aber einen genialen Schachzug in der PR-Kampagne des Präsidenten dar, die es sich zum Ziel gesetzt hat eine beispielhafte sozialistische Quote mit anständiger Wahlbeteiligung zu erreichen.
Putin verfügt durch seine Beamten oberen Ranges über einen festen Stamm von Helfern und Helfershelfern, die unlängst dazu übergegangen sind, die angeblichen zahlreichen Errungenschaften des Präsidenten während der vergangenen vier Jahre über alle Maassen zu preisen. Alles wird mit dem Tag X, dem Beginn dessen Amtszeit verglichen. Doch werfen wir einen kurzen Blick zurück. Damals wurde der von Jelzin zum Interimspräsidenten ernannte gesichtslose ehemalige Agent mit dem Wahlversprechen gepusht, den von ihm selbst mit entfesselten zweiten Tschetschenienkrieg schnellstens beenden zu wollen. Jener «kleine siegreiche Krieg», den Russland seit dem 11. September 2001 im Namen der internationalen Gemeinschaft gegen den Terrorismus islamistischer Machart weiterführen darf, entwickelte sich allerdings zum absoluten Debakel. Weder das im vergangenen Jahr vom Kreml inszenierte Referendum über den Verbleib Tschetscheniens in der Russischen Föderation, noch die folgenden nach ähnlichem Drehbuch organisierten Präsidentschaftswahlen in der Republik, die mit dem Sieg des damaligen Moskauer Statthalters und ehemaligem Grossmufti von Tschetschenien Achmed Kadyrow endeten, können darüber hinweg täuschen, dass dem in weiten Teilen hausgemachtem Problem nicht durch dumpfe Propaganda und eine korrupte Armee beizukommen ist. Entführungen und Folter bestimmen in Tschetschenien nach wie vor die Tagesordnung. Allein im Januar diesen Jahres wurden 33 Menschen entführt, nur 14 davon kamen wieder frei, die Leiche eines Entführten konnte ausfindig gemacht werden. Dabei arbeiten die brutalen Sondereinheiten Kadyrows Hand in Hand mit den russischen Einheiten. Wessen Verwandtschaft nicht in der Lage ist das geforderte Lösegeld aufzubringen wird entweder umgebracht oder den russischen Sonderermittlern übergeben, die durch Folter Geständnisse erpressen und so ihre Statistiken mit neuen Terroristen aufpeppen. Aber es gibt auch Fälle, wo es gelingt, Entführte rechtzeitig ausfindig zu machen oder gar Formen von offenem Protest, wie beispielsweise Strassenblockaden. Im Ort Samaschki wehrte sich im vergangenen Jahr die örtliche Bevölkerung gegen das Verschwinden einer Minderjährigen mit der Drohung, die tschetschenischen Präsidentschaftswahlen zu boykottieren. Das Mädchen tauchte wenige Tage später äusserlich praktisch unversehrt wieder auf.
Längst beschränkt sich der Krieg in Tschetschenien nicht mehr auf den Nordkaukasus. Erst im Februar kamen bei einem Anschlag in der Moskauer Metro nach offiziellen Angaben 40 Menschen ums Leben, während Mitarbeiter des Rettungsdienstes von über 100 Todesopfern sprachen. Über ein Jahr zuvor starben 129 Menschen infolge eines angeblich ungefährlichen Gaseinsatzes russischer Spezialeinheiten nach der Besetzung eines Musicaltheaters durch ein tschetschenisches Kommando. Die Verluste innerhalb der russischen Armee beziffert das Internationale Institut für strategische Forschungen (IISS) allein zwischen August 2002 und August 2003 auf 4749 Menschen, russische Stellen sprechen von etwa 4500 toten Militärangehörigen zwischen 1999 und 2002. Andere Angaben belaufen sich auf bis zu 15000 während des zweiten Tschetschenienkrieges umgekommener Soldaten.
All das klingt nicht nach einer Erfolgsbilanz. Putin hat sein einziges Wahlversprechen bis heute nicht umgesetzt und dennoch macht ihm daraus kaum jemand einen Vorwurf. Sichtbare Proteste gegen das Morden im Kaukasus beschränken sich auf eine kleine Minderheit. Der Durchschnittsbürger assoziiert mit dem Wort Krieg gar eher noch den Afghanistankrieg. Wer macht sich schon die Mühe und begibt sich auf die Suche nach Informationen jenseits der von den staatlichen oder halbstaatlichen Sendern präsentierten Siegesmeldungen im Kampf gegen die bewaffneten Banden im Süden? Man könne ja doch nichts ändern lautet der Grundtenor — will aber auch gar nichts ändern. Jegliche Veränderungen und politische Reformen bergen schliesslich unweigerlich Gefahren in sich, deren Folgen nicht absehbar sind. Putin fungiert dabei im öffentlichen Bewusstsein in der Rolle des Bewahrers vor möglichen Katastrophen ungeachtet der Tatsache, dass er das Werk seines Vorgängers zwar weniger pompös, jedoch zielstrebig fortsetzt.
«Meine Heimat frisst wie ein Schwein ihre Söhne» und «Die Toten tragen ihre Leichen zu Grabe» singt Rockaltstar Boris Grebenschtschikow auf einem seiner letzten Alben. Zu Grabe getragen wird im neuen Russland in der Tat schon seit Jahren so ziemlich alles was das Leben hier erträglich macht. Vom subventionierten Strom und Wohnraum bis zur medizinischen Grundversorgung für alle Bevölkerungsschichten, ganz zu schweigen von kostenloser Bildung. Ein typisch neoliberales Programm also, welches jedoch an Schärfe gewinnt, betrachtet man das reale Einkommen am unteren Ende der Werteskala. Im Februar verkündete das Arbeitsministerium, dass 3,85 Millionen Arbeitnehmer in Russland offiziell weniger als 400 Rubel im Monat verdienen, was gegenwärtig umgerechnet 11 Euro und in etwa 22% des staatlich festgelegten Existenzminimums entspricht. 15% der Arbeitnehmer verdienen offiziell zwischen 400 und 1000 Rubel. Nach den Angaben der staatlichen Statistikbehörde Goskomstat lebt etwa ein Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, die Akademie der Wissenschaften schätzt diesen Anteil auf ein Drittel, ein weiteres Drittel verfüge immerhin über eine inzwischen stabile Grundversorgung auf unterstem Niveau. Beide Schichten eint völlige Perspektivlosigkeit, es geht lediglich darum wenigstens die Stellung zu halten. Wer weit genug über dem Einkommensdurchschnitt liegt darf sich glücklich schätzen und seine frisch gewonnene Kaufkraft in Konsumgüter umsetzen. Dieser Vorgang nimmt zusammen mit dem Geld- und Vermögenserwerb so viel Zeit und Energie in Anspruch, dass allein der Gedanke an andersgeartete Aktivitäten jenseits jeglichen Vorstellungsvermögens entgleitet.
Angesichts solch verheerender Zustände nimmt es kaum Wunder, dass sich in Russland derzeit nur vereinzelt Ansätze einer sozialen Praxis finden lassen, die dem allgemein anzutreffenden apolitischen Lebensgefühl konkretes Handeln entgegensetzen. Wer immer noch aus alter Gewohnheit daran festhält, dass der Mensch als Subjekt fähig ist seine Umwelt selbst zu gestalten, tröstet sich derzeit meist mit dem Gedanken, dass die hohen Ölpreise irgendwann fallen werden und eine neue Wirtschaftskrise die Gesellschaft in Bewegung bringen könnte. Vielleicht ja schon vor Ablauf Putins zweiter Amtszeit.
ute weinmann
ak 482