Vom Glanz und Elend St. Petersburgs. von franziska bruder, ute weinmann (text) und betty pabst (fotos)
Frédéric Chopins Trauermarsch klingt aus den Lautsprechern längs des Weges, der auf dem Piskarevskij-Friedhof zwischen den Gräberfeldern zu einer Gedenkanlage führt. Es ist später Nachmittag, und außer uns ist in der ausgedehnten Gedenkstätte kaum ein Mensch zu sehen. »Das war früher ganz anders«, sagt Ludmila von der Universität Petersburg, mit der wir unterwegs sind, »früher gehörte der Besuch des Friedhofes für in- und ausländische Besuchergruppen zum Pflichtprogramm.«
Der Friedhof und die dort errichtete Gedenkstätte erinnern an die Blockade Leningrads während des Zweiten Weltkriegs. Sie dauerte von September 1941 bis Januar 1944, insgesamt 900 Tage. Ein Drittel der damaligen Einwohner, 800 000 Menschen, starb während der Blockade, an Hunger oder an Krankheiten. Auf dem Friedhof wurden die Toten in Massengräbern beerdigt, wovon heute die breiten und etwa einen Meter hohen Gräberhügel eindringlich zeugen.
Die Deutschen maßen der Eroberung der Stadt eine militärstrategische, aber ebenso eine politisch-symbolische Bedeutung bei. Leningrad war das Symbol der Oktoberrevolution und somit der Sowjetmacht. Militärstrategisch war die Stadt wichtig, weil hier die Ostseeflotte ihre Basis hatte und von hier aus der Weg nach Murmansk hoch im Norden führte.
Schon bei der Gründung der Stadt hatten geostrategische Gründe eine wichtige Rolle gespielt. Zar Peter der Große begann 1703 mit dem Bau der Peter-und-Pauls-Festung auf einer Insel in der Neva-Mündung. Ursprünglich sollte Piter, wie die Einheimischen die Stadt nennen, eine Marinebasis werden. Doch der Zar besann sich eines anderen, verlegte 1711 seinen Sitz hierher, und die Stadt wurde zu einem gigantischen politischen, ökonomischen und strategischen Projekt, zum »Fenster zur Ostsee« und zu Europa. Zugleich avancierte die Stadt zur größten Garnison des gesamten russischen Reichs.
In der Ära Peters des Großen, die häufig als Modernisierungsphase gilt, wurden die Grundlagen für ein entwickeltes despotisches und aggressives Staatswesen geschaffen. Dem aufkeimenden Kapitalismus folgte keine Befreiung von der Leibeigenschaft, stattdessen entstanden staatlich kontrollierte Manufakturen, in denen Bauern faktisch als Sklaven arbeiten mussten. Sowohl Adlige als auch andere Nichtleibeigene waren zum Wehrdienst verpflichtet. Wegen des ständigen Kriegszustandes, der im zaristischen Russland herrschte, konnten sie oft über viele Jahre ihre Familien nicht sehen. Forderungen der einfachen Soldaten nach mehr Sold und Urlaub wurden regelmäßig brutal niedergeschlagen. Die Kirche verlor per Befehl ihre Unabhängigkeit und ihren Patriarchen, ein Amt, das – Ironie der Geschichte – erst nach der Oktoberrevolution wieder eingeführt wurde.
Petersburg sollte es mit den westeuropäischen Hauptstädten aufnehmen können und die Macht des russischen Zaren verdeutlichen. Und so errichteten Sklavenarbeiter, von denen viele bei der Arbeit elend zu Grunde gingen, auf dem sumpfigen Boden rund um die Neva gigantische Paläste und Kirchen. Heute noch können Besucher der Eremitage oder der außerhalb der Stadt gelegenen Zarenresidenz Peterhof erahnen, wie die Stadt auf ihre Besucher gewirkt haben muss. Man war gut beraten, sich genau zu überlegen, ob man sich mit der hier demonstrierten Macht anlegen wollte.
1725 wurden die meisten hauptstädtischen Institutionen des russischen Reiches von Moskau nach Petersburg verlegt. Seitdem konkurrieren beide Großstädte miteinander. Redet man mit Petersburgern über Moskau, bekommt man versichert, Moskau sei eine »seelenlose Beamtenstadt«, Petersburg hingegen eine »Stadt der Kultur«, die Stadt Fjodor Dostojewskijs, Alexander Puschkins und des berühmten Marientheaters. Fragt man hingegen die in Piter zahlreichen Gäste aus der Hauptstadt, so sind diese zumeist voller Lob über die Stadt an der Neva. Die Petersburger Bevölkerung betont wohl deshalb die kulturelle Tradition der Stadt so stark, um sich zumindest in einer Hinsicht gegenüber der Hauptstadt aufzuwerten.
Petersburg wurde auch zum Zentrum des russischen Seehandels und zum größten Industriestandort des zaristischen Reichs. Vor allem Bauern aus der Umgebung strömten nach der Aufhebung der Leibeigenschaft Mitte des 19. Jahrhunderts in die Stadt, deren Bevölkerung enorm wuchs, und Ende des Jahrhunderts erfolgte die erste große Abrisswelle. Neubauten wurden errichtet, um für diese Menschen Wohnraum zu schaffen. Die Stadt wurde regelmäßig von der Neva überflutet, und da es kaum befestigte Straßen gab, versank häufig alles im Schlamm.
1914 wurde die Stadt in Petrograd umbenannt und nach dem Tod Lenins 1924 in Leningrad. Bezüge auf das zaristische Imperium oder die russische Großmachtpolitik gab es auch in der Sowjetunion, selbst wenn die Regierung 1918 rasch nach Moskau umzog und es wieder zur Hauptstadt erklärte, um sich von der imperialen russischen Geschichte abzugrenzen.
Vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren wuchs die weiter boomende Stadt durch pompöse Bauten im Stil der Stalinschen Zeit. Die überdimensionierten Gebäude, in denen zumeist die Partei untergebracht wurde, waren ebenso wie ihre Vorläufer zu Architektur geronnene Machtansprüche. Das genau war auch ihre Aufgabe, denn nirgendwo anders als in Petersburg, dem Sinnbild der zaristischen Machtfülle, musste das neue Regime einem direkten Vergleich standhalten.
Im vergangenen Jahr feierte Sankt Petersburg, das seinen ursprünglichen Namen 1991 zurückerhielt, seinen 300. Geburtstag. Zu diesem Anlass wurden viele der berühmtesten und zentral gelegenen historischen Gebäude der Stadt saniert. Die Eremitage, also das ehemalige Winterpalais, und der Nevskij-Prospekt sind seitdem fein herausgeputzt, und Tag für Tag wälzen sich Massen von Touristen hindurch. Schaut man in die Hinterhöfe oder geht man Seitenstraßen entlang, wird aber rasch sichtbar, wie heruntergekommen die Bausubstanz der meisten Häuser ist.
Die Erhaltung der zahlreichen historischen Bauten kostet viel Geld, das die Stadtverwaltung nicht hat. Auch weitere infrastrukturelle Probleme halten sich hartnäckig: Es gibt zu wenig Brücken, die die Neva-Inseln mit dem Festland verbinden. Die Neva und die Kanäle stellen ein großes Problem beim Einrichten neuer Metrostationen dar. Vielerorts kann kaum gebaut werden, da der sumpfige Boden hierfür nicht geeignet ist. Wohnungen sind in der Stadt nicht leicht zu haben, man geht von 20 000 bis 30 000 Obdachlosen aus.
Wenn dennoch neue Wohnungen gebaut werden, wird mit dem Platzmangel »unbürokratisch« verfahren; etwa indem man mitten in die großzügig angelegten Hinterhöfe der repräsentativen Altstadt Neubauten setzt. Dagegen regt sich Protest der Anwohner, doch bislang ohne Erfolg.
Auch die Überschwemmungen sind nach wie vor ein Problem. Um die Neva unter Kontrolle zu bekommen, wurde vor einiger Zeit mit dem Bau eines Damms begonnen, der die kleine und traditionsreiche Insel Kronstadt mit dem Festland verbinden und die Stadt vor dem Wasser schützen soll. Bislang aber hat sich das ambitionierte Bauprojekt vor allem ökologisch verheerend ausgewirkt. Das gestaute Wasser ist umgekippt, der Damm ist wegen Geldmangel aber immer noch nicht fertig gestellt.
Der Stadtverwaltung von Petersburg mangelt es auch an Geld, um die vielen historischen Gebäude zu restaurieren und die notwendigen infrastrukturellen Projekte anzugehen oder zu Ende zu führen. Dringend notwendig wären etwa eine umfassende Modernisierung des Wasserversorgungssystems, der Kanalisation und der Wasseraufbereitung der Neva. Eine Untersuchung des Petersburger Trinkwassers, die 2003 durchgeführt wurde, ergab, dass vor allem in den Bezirken Puschkin und Vyborskij fast die Hälfte des analysierten Wassers nicht dem erforderlichen Standard genügte. Im vergangenen Jahr gab es 1 000 größere Defekte an der Kanalisation, was dazu führte, dass ganze Hauskomplexe viele Stunden lang von der Wasserversorgung abgeschnitten waren, mancherorts wurde das Wasser gleich unbefristet abgestellt.
Zur Lösung der finanziellen Probleme hat sich Gouverneurin Valentina Matvienko, die wie viele andere Angehörige der neuen politischen und ökonomischen Elite eine ehemalige Funktionärin des Jugendverbandes Komsomol ist, in einem offenen Brief Firmen und Unternehmen aufgefordert, Geld in eine Art »zweites Budget« einzuzahlen. Dafür sollen die Firmen Steuervergünstigungen und verkürzte und vereinfachte bürokratische Verfahren erhalten. Über Einzelheiten schweigt sich die Gouverneurin aus. Unklar ist auch, wer bislang bereit ist, in das »zweite Budget« einzuzahlen. Vor allem ein Name ist im Gespräch, die TNK-VR, eine Ölgesellschaft, die sich zu 50 Prozent in Händen der mächtigen Alpha-Gruppe befindet, die dem so genannten Oligarchen Michail Fridman gehört, einem der reichsten Männer Russlands.
Von all diesen Problemen sehen die Touristen während ihres Routineprogramms im Stadtzentrum nichts. Sie sehen allenfalls alte, verarmte Frauen, die vor Kirchen stehen und betteln oder ein wenig Gemüse aus der eigenen Datscha verkaufen. Petersburg hat hier eine weitere Besonderheit: Im Gegensatz zu vielen anderen Städten besteht keine weitgehende territoriale Segregation zwischen Armen und Reichen. So wohnen in den historischen Gebäuden der Altstadt sehr arme Menschen in so genannten Kommunalkas – großen Wohnungen, in denen ganze Familien einzelne Zimmer bewohnen und man sich gemeinschaftlich Toilette und Küche teilt. Die Wohlhabenden können sich in diesen Gebäuden eine Eigentumswohnung leisten und auf eigene Kosten neue Türen und Fenster einbauen lassen.
Keine Stadt in der ehemaligen Sowjetunion hatte einen so hohen Anteil an Kommunalkas wie Leningrad. Das erzwungene Zusammenleben auf engstem Raum praktisch ohne Privatsphäre brachte ein sehr spezifisches Beziehungsgeflecht mit ganz eigenen Regeln hervor. Wer einen nachbarschaftlichen oder gar freundschaftlichen Kontakt zu den anderen Wohnparteien pflegen konnte, durfte sich glücklich schätzen – Usus war und ist dies nicht.
Auf dem Nevskij aber tummeln sich neben den Ausländern vor allem junge Russinnen und Russen, obwohl Petersburg statistisch gesehen eine Stadt der Rentnerinnen und Rentner ist. Wie in allen mittelosteuropäischen Ländern gehört diese Gruppe zu den Verlierern des Übergangs zum Kapitalismus. Armut macht immobil. Ihre Situation dürfte sich bald weiter verschlechtern. Im August 2004 wurde eine Gesetzesänderung durch die Duma gepeitscht, mit der das kostenlose Benutzen von öffentlichen Transportmitteln oder die kostenfreie Zuteilung von Medikamenten, die bislang Kriegsveteranen, Rentner oder Tschernobyl-Versehrte genossen, gestrichen wurden. Die Vergünstigungen sollen durch Bargeldzahlungen ersetzt werden. Doch dass das versprochene Geld jemals bei den Betroffenen eintreffen wird, ist zu bezweifeln. Aus diesem Grunde kam es in Moskau zu größeren Demonstrationen und dabei auch zu Auseinandersetzungen mit der Miliz (Jungle World, 35/2004).
Dass selbst Kriegsveteranen keine Vergünstigungen mehr erhalten werden, macht deutlich, wie sich die Rolle der Kriegsgeneration im modernen Russland und damit verbunden die zentrale Rolle des Zweiten Weltkriegs im kollektiven historischen Bewusstsein verändert. Im Verhältnis zu Deutschland etwa wird vielmehr die Freundschaft von Wladimir Putin mit Gerhard Schröder betont. Dennoch wird das nächste Jahr, wenn sich die Befreiung zum 60. Mal jährt, der Jahrestag mit allem Pomp und an aktuelle politische Belange angepasst gefeiert werden.
Auch die Rote Armee kann einen Prestigegewinn gebrauchen. Ihr Bild wird bestimmt durch Desaster wie das gesunkene Atom-U-Boot »Kursk«, die katastrophalen Meldungen aus Tschetschenien, die große Zahl an traumatisierten Tschetschenien-Veteranen, Meldungen von Misshandlungen in der Armee oder die eklatant hohe Selbstmordrate von Soldaten. Generell mangelt es im heutigen Russland an sozialen Perspektiven, aber auch die Armee bietet keine Alternative und muss sich um Nachwuchs sorgen.
Und sie löst das Problem oft auf ihre eigene Weise. An den Metro-Eingängen in Petersburg beobachten Soldaten aufmerksam junge Männer, die sie, wie die Nichtregierungsorganisation »Soldatenmütter« berichtet, regelrecht von der Straße weg in die Kasernen verschleppen und zwangsweise rekrutieren. Die Soldatenmütter sehen ihre Aufgabe darin, den Einzug der jungen Männer in die Armee zu verhindern, da diese Struktur sie kaputtmache, meint Zolja, die dort seit mehr als zehn Jahren arbeitet. Die Organisation unterstützt Soldaten, begleitet sie zu Ärzten oder Anwälten oder bringt sie zunächst bei Freunden unter, um sie vor dem Zugriff der Armee zu schützen.
Neben den Misshandlungen in der Armee ist ein weit verbreitetes Problem, so berichtet Zolja, dass Soldaten von ihren Vorgesetzen häufig als eine Art Sklaven an Bauunternehmer verkauft werden, wo sie auf Baustellen ohne Lohn arbeiten und auch schlafen müssen. Die Arbeit der Mütter kommt der russischen Regierung nicht gelegen. Sie bereitet ein Gesetz vor, das in Zukunft alle Organisationen, die für die Menschenrechte arbeiten, zwingen soll, Spenden von internationalen Trägern über den Staat laufen zu lassen. Eine unverhüllte Drohung, ihnen die finanziellen Mittel abzudrehen, schließlich könnte kaum eine NGO ohne Geld aus dem Westen weiterarbeiten. Da in der Duma viele ehemalige oder noch aktive Geheimdienstmitarbeiter und Afghanistan-Veteranen sitzen, dürfte es bei der Verabschiedung dieses Gesetzes keine Probleme geben.
Auf dem Piskarevskij-Friedhof ist die Musik inzwischen verstummt. Auf einer Tafel neben der zentralen Figurengruppe wird mitgeteilt, dass der Friedhof bis 2005 neu gestaltet werden soll. Unter anderem soll eine »Allee der Erinnerung« entstehen, in der den Toten aus den verschiedenen Ländern und aus den unterschiedlichen Gruppen der Leningrader Bevölkerung gedacht werden soll. Einige Marmorplatten sind bereits ein wenig abseits aufgestellt. Auf ihnen finden die Verstorbenen berühmter Leningrader Betriebe wie der Kirow-Werke, in der Sowjetunion berühmt für ihre Traktor- und Panzerproduktion, oder von Petersburger Brotkombinaten Erwähnung. Es spricht einiges dafür, dass Putin das Erinnern dafür nutzen wird, um die wachsende soziale Kluft innerhalb der russischen Gesellschaft durch modernisierten »Sowjetpatriotismus« zu verdecken.