Für den Kreml geht es beim Machtwechsel im Bruderstaat um mehr als um die Neuwahl einer politischen Figur.
Als die Ukraine im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion im Jahre 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte, hatte Moskau dem wenig entgegenzusetzen. Der erste Präsident der unabhängigen Ukraine, Leonid Krawtschuk, orientierte sich an einer durchaus eigenständigen und nationalistischen Linie, agierte jedoch mit der gewohnten Trägheit eines Apparatschiks alter Schule. Der 1996 gewählte Leonid Kutschma erschien allerdings sogar vor diesem Hintergrund als geradezu russophil. Er setzte vor seiner Wiederwahl im Jahr 2000 sogar auf die Wirksamkeit prorussischer Wahlversprechen, wie beispielsweise die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache. Die Umsetzung dessen blieb er jedoch bis zum heutigen Tage schuldig.
Trotz der nicht reibungslosen ukrainisch-russischen Beziehungen stellte sich Kutschma für das russische Machtzentrum zumindest als handhabbare und berechenbare Figur heraus. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, dass der ukrainische Handel mit Russland seit Jahren rückläufig ist. Der unausweichliche Machtwechsel nach Ablauf der zweiten Amtsperiode Kutschmas musste dem Kreml somit Kopfzerbrechen bereiten, bedeutet er doch – wie im gesamten postsowjetischen Raum –, aufgrund direkter ökonomischer Verflechtungen und Abhängigkeiten, diverser Altlasten aus Sowjetzeiten und nicht zuletzt geostrategischer Interessen mehr als nur die Neuwahl einer politischen Figur mit verfassungsrechtlich normierten Vollmachten.
Das Hauptinteresse Russlands besteht darin, die Ukraine nicht aus dem direkten politischen Einfluss zu entlassen, besser noch, die eigene Kontrollfunktion auszubauen. Im nach wie vor aktuellen russischen imperialen Verständnis ist die Ukraine – etymologisch aus dem Wort »Rand« abgeleitet – eigentlich ein Missverständnis. Das Vorhandensein eines unabhängigen ukrainischen Staates wird an sich zwar nicht in Frage gestellt – das würde jeglichem guten Ton widersprechen–, dafür wird gerne vereinnahmend das vermeintlich so gute nachbarschaftliche Verhältnis »mit unseren Brüdern« gepredigt.
Die Ziele russischer Politik in der Ukraine müssen gar nicht offen ausgesprochen werden. Sie offenbaren sich im Denken und praktischen Handeln eines breiten politischen Spektrums in Russland, das sich darin einig ist, dass es um die möglichst umfassende Integration der Ukraine geht. Gestritten wird höchstens um das taktische Vorgehen, welches jedoch keiner einheitlichen Linie bedarf. Nach außen hin mag die russische Politik konzeptlos wirken, doch so zu denken, wäre ein Trugschluss.
Drei Szenarien sind denkbar: die Integration der Ukraine als Ganzes, in zwei Teilen oder häppchenweise. Die russischen Polittechnologen, allen voran der seit Jahren mit der Entwicklung in der Ukraine betraute Gleb Pawlowski, verfolgten spätestens seit dem Sommer eine massive Öffentlichkeitskampagne für Janukowitsch und betonten dessen vermeintliche Affinität zu Russland und die angeblich ausschließliche Zuneigung Juschtschenkos gegenüber dem Westen.
Es brauchte eine Krise, deren Ausmaße im Vorfeld jedoch nicht abzusehen waren. Denkbar wäre gewesen, dass keiner von beiden als Sieger aus den Wahlen hervorgegangen wäre. Das hätte eventuell die Chance für eine wie auch immer geartete Verlängerung von Kutschmas Amtszeit bedeuten können.
Weder Juschtschenko noch Janukowitsch stellen ideale Kandidaten für den Kreml dar. Das weitere Vorgehen Russlands wird sich auch nach dem Verhalten des Siegers der im Dezember anstehen Neuwahlen richten. An den grundsätzlichen Zielen ändert das wenig.
Ute Weinmann