Wie denkt die russische Bevölkerung heute über ein Ereignis, welches seinerzeit die Welt in Atem hielt
Für die einen ist der 19. August 1991 der Beginn einer neuen demokratisch verfassten Ära, für die anderen symbolisiert dieser Tag das unrühmliche Ende eines zu Unrecht gescheiterten Experiments. Doch fünfzehn Jahre nach dem Putschversuch des „Staatlichen Komitees für den Ausnahmezustand“ gegen den damaligen Präsidenten Michail Gorbatschow dominiert in der russischen Gesellschaft ein ambivalentes Verhältnis zu jenen Ereignissen. Nach Umfragen der vergangenen Jahre zu urteilen, fühlen sich mit wachsendem zeitlichen Abstand immer weniger Russen im Stande, dessen Abläufe und Hintergründe einzuordnen. Annähernd die Hälfte der im vorigen Jahr von dem russischen Meinungsforschungsinstitut WZIOM Befragten gab an, damals nicht verstanden zu haben, was eigentlich vor sich ging. Für die Bevölkerung in den Regionen, also weit weg von den Machtzentren Moskau und Leningrad, stellte sich diese Frage verschärft bereits zum Zeitpunkt des Putsches.
Der 19. August markierte jedoch für das ganze Land einen spürbaren Wendepunkt, denn das Auseinanderfallen der Sowjetunion war von nun an für alle deutlich sichtbar nicht mehr aufzuhalten. Im Unterschied zu den neunziger Jahren ist heute eher selten die Einstellung anzutreffen, die Putschisten, Gorbatschow oder der vormalige russische Präsident Boris Jelzin, der letztlich am meisten von dem fast unblutig zu Ende gegangenen Putschversuch profitiert hatte, seien für die Auflösung der Sowjetunion verantwortlich. Vielmehr findet die Ansicht mehr und mehr Verbreitung, wonach die Sowjetunion ihr Ende infolge interner struktureller Probleme fand. Der Putsch wird somit eher als aufbrechender Widerspruch zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen denn als Sieg demokratischer Kräfte interpretiert. Und so finden sich selbst bei den russischen Liberalen in unterschiedlichen Parteien nur noch wenige, die bereit sind eine solche Lesart bei öffentlichen Veranstaltungen am Jahrestag des Putsches kund zu tun. Fast schon in Vergessenheit geraten ist sogar das Bündnis „Lebender Kreis“, welches sich wohl am aktivsten der Erinnerung an die massenhafte Gegenwehr gegen die Putschisten verschrieben hat. Allerdings haben sich dessen Verdienste damit auch schon erschöpft.
Das geringe Wissen um die Ereignisse am 19. August 1991, einen Tag bevor Gorbatschow und eine Gruppe der Staatsführer aus den Sowjetrepubliken einen neuen Unionsvertrag unterzeichnen sollten, ist sicherlich auch darauf zurück zu führen, dass sich die neue russische Führung wenig um Aufklärung bemüht hat. Boris Jelzin vermied während seiner Amtszeit nach Möglichkeit die Erwähnung jenes historischen Datums. Dies nimmt kaum Wunder, haben sich dessen Versprechungen einer direkten Demokratie doch nach Ansicht der Mehrheit der Bevölkerung in Luft aufgelöst. Spätestens nach der Preisliberalisierung und die damit horrend ansteigenden Lebenshaltungskosten war das Gefühl, betrogen worden zu sein, in Russland allgegenwärtig.
Jelzins Nachfolger Wladimir Putin gab von Anfang an zu verstehen, dass er weder die Seite des vermeintlichen Gewinners, noch die Seite des gescheiterten Putschkomitees vertrete. Der Kreml in seiner heutigen Zusammensetzung will folglich nicht mit den Fehlern und Niederlagen beider Seiten assoziiert werden. Gleichzeitig entspricht dies der Gefühlslage eines Großteils der russischen Bevölkerung.
In den ehemaligen Sowjetrepubliken wiederum wird der gescheiterte Putschversuch vom August 1991 oft wesentlich positiver rezipiert. Zumal bei der jungen Generation, deren politische Sozialisation ganz anders als die ihrer Eltern oder Großeltern geprägt ist und die die Unabhängigkeit ihres Landes weitgehend unhinterfragt in den Vordergrund stellt. Auch hier macht sich der Mangel an historischem Wissen bemerkbar. Dessen scheinbare Irrelevanz für den gegenwärtigen Alltag mit seinen spezifischen Problemen lässt die Sowjetunion mangels realem Bezug nur noch als mythisches Gebilde erscheinen.
Weder ist der 19. August heute in Russland ein Gedenktag, noch der Tag des Sieges über die vier Mitglieder des Putschkomitees. Letztere wurden bereits im Februar 1994 durch eine klare Mehrheit in der Staatsduma amnestiert. Geblieben ist die neue Staatsfahne, die russische Trikolore, die nach dem Ende des Putsches am 22. August 1991 wieder eingeführt wurde. Aber selbst dieser Umstand dürfte nur noch den wenigsten in Erinnerung geblieben sein.
ute weinmann