Rekordfestnahmen von Anti-G8-AktivistInnen in St. Petersburg
Im Nachhinein muss man sich immer die Frage gefallen lassen, ob sich der Aufwand überhaupt gelohnt hat. Zumindest drängt sie sich in den Fällen auf, wo es kaum sichtbare Ergebnisse vorzuweisen gibt. Von Außen betrachtet muten die Gegenaktivitäten zum diesjährigen G8-Gipfeltreffen in St. Petersburg jedenfalls wenig spektakulär an. Wie zu erwarten blieben Massenproteste aus, und auch die internationale Beteiligung hielt sich in Grenzen. Vor einem Jahr wurde das Netzwerk gegen den G8, ein loser Zusammenschluss anarchistischer — als Oberbegriff für nichtparteigebundene und undogmatische — Gruppen, ins Leben gerufen. Um zu verstehen, in welchem Kontext das Netzwerk agiert hat, soll an dieser Stelle zuerst ein Überblick über die wichtigsten Events rund um den G8 gegeben werden.
Vor einem Jahr wurde das Netzwerk gegen den G8, ein loser Zusammenschluss zahlreicher anarchistischer — als Oberbegriff für nichtparteigebundene und undogmatische — Gruppen, ins Leben gerufen. Um zu verstehen, in welchem Kontext das Netzwerk agiert hat, soll an dieser Stelle zuerst ein grober Überblick über die wichtigsten Events rund um den G8 gegeben werden.
Noch zu Jahresbeginn gab sich kaum eine der globalisierungskritisch eingestellten Organisationen und Bewegungen irgendwelchen Illusionen hin, wonach sich in St. Petersburg während des G8 größere Veranstaltungen oder gar Protestaktionen organisieren ließen. Aus dem Kreml kam das eindeutige Signal, wer sich kritisch zum Thema G8 äußern will, möge sich am sogenannten Bürgerforum beteiligen. Dies fand Anfang Juli unter der Schirmherrschaft von Ella Pamfilova, der Vorsitzenden des präsidialen «Rats zur Mitwirkung an der Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte» statt. Die Veranstaltung war ein notwendiges Zugeständnis an die westlichen G8-Mitgliedsstaaten, um diesen ein Minimum an formaler Demokratie in Russland zu präsentieren, allerdings unter weitgehend staatlicher Kontrolle.
Deutlich weniger willkommen war den Moskauer Strategen der Kongress des «Anderen Russlands» («Drugaja Rossija»), in dem sich ein wildes Spektrum aus oppositionellen Parteien und Organisationen wiederfand: vom ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Michail Kasjanow über einige Bürgerrechtsgruppen bis hin zum Stalinisten Viktor Anpilov von der Partei «Trudovaja Rossija» («Werktätiges Russland») und Eduard Limonov, dem in liberalen Kreisen längst salonfähig gewordenen Chef der Nationalbolschewistischen Partei. Zudem nahmen zahlreiche westliche Demokratiehüter an dem Spektakel teil, darunter US-amerikanische Regierungsvertreter und der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Reinhard Büttikofer. Der G8 diente hier lediglich als medialer Anlass zur Propagierung einer Art großen Koalition gegen das Regime von Präsident Vladimir Putin, doch allein in Anbetracht der Zusammensetzung möchte man nicht lange auf deren Scheitern warten müssen.
Einschüchterungskampagne der Staatsschutzorgane
Ein echtes Desaster zeichnete sich jedoch auf Seiten der nicht parteigebundenen russischen Linken ab. Zum eigentlichen Gegengipfel wurde frühzeitig das Russische Sozialforum hochstilisiert. Im Unterschied zu anderen Veranstaltungen wie dem libertären Forum desNetzwerks gegen den G8 in Moskau, dem alternativen Energieforum oder dem Seminar der Rosa-Luxemburg-Stiftung sollte das Russische Sozialforum zeitlich parallel zum offiziellen G8 stattfinden. Um dies zu ermöglichen, ließ sich das Vorbereitungskomitee auf Verhandlungen mit der Stadt und dem Kreml ein. In der Administration von Präsident Putin überwogen zunächst die Befürworter des Forums, die gar ihre Zustimmung zu einer Demonstration am 15. Juli, dem ersten Tag des offiziellen Gipfels, versprachen.
Widerwillig, aber zuverlässig, setzte die Petersburger Stadtverwaltung die Direktiven aus Moskau um. Den an die 1.500 beim Sozialforum registrierten Protestwilligen stand kostenlos ein ganzes Stadion in einem Erholungspark weitab vom Stadtzentrum zur Verfügung, in dem man sich noch verloren hätte, wären zehn Mal so viele TeilnehmerInnen angereist. Dabei dürfte es sich bestimmt bei einem Fünftel davon um Angehörige des russischen Staatsschutzes gehandelt haben, die eifrig fotografierten und Augen und Ohren offen hielten. Die Miliz führte am Eingang Kontrollen durch und machte keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber den vermeintlichen GlobalisierungsgegnerInnen. Interessierte SpaziergängerInnen wurden in der Regel grob abgewiesen, und wer sich lediglich am Fernsehbildschirm einen Eindruck über diese merkwürdige Versammlung verschafft hatte, durfte sich im Glauben wähnen, die Forumsdelegierten handelten generell im Einvernehmen mit den Stadtoberen, ja werden regelrecht bevorzugt behandelt. Dieser Eindruck verstärkte sich noch durch die glänzenden Auftritte der Petersburger Gouverneurin Valentina Matvienko und deren Stellvertreters Jevgenij Tarasov. Fast fürsorglich erkundigten sie sich vor laufenden Fernsehkameras nach dem Wohlbefinden der TeilnehmerInnen und ob vor Ort alles in ausreichender Weise organisiert sei.
Um einen reibungslosen Ablauf des Gegengipfels hatte man sich indes nicht nur in Petersburg bemüht. In den Tagen vor Beginn des Sozialforums fand in ganz Russland eine in ihren Ausmaßen beispiellose Kampagne der Staatsschutzorgane statt. Hunderte AktivistInnen aus den verschiedensten politischen Organisationen, Gewerkschaften, der Ökobewegung, Bürgerinitiativen, AnarchistInnen wurden von den örtlichen Polizeibehörden aufgefordert, nicht nach Petersburg zu fahren. Ohne legale Grundlage wurden sie Verhören unterzogen, ID-behandelt, wurden Fahrscheine beschlagnahmt, Menschen aus Zügen und Bussen heraus festgenommen, geprügelt und unter den absurdesten Vorwänden an der Weiterfahrt gehindert. In etlichen Fällen wurden Strafverfahren eingeleitet oder angedroht. Drei Aktivisten der Sibirischen Konföderation der Arbeit sahen sich auf dem Weg nach Westen mit der Anschuldigung konfrontiert, Passagiere in ihrem Zugwaggon hätten sich wegen angeblicher extremistischer Äußerungen beschwert. Aleksandr Lashmankin aus Samara musste nach dem vierten Versuch, mit diversen Transportmitteln nach Petersburg zu gelangen, aufgeben — der Inlandsgeheimdienst FSB hatte ihn landesweit zur Fahndung ausschreiben lassen. An die 500 Personen mussten von ihrer Reise absehen oder unterwegs umkehren.
In Petersburg waren derweil bereits erste Urteile gegen etliche russische Aktivisten, zwei Deutsche und einen Schweizer gefällt: zehn Tage Haft wegen Pinkelns im Hof oder Fluchen an einem öffentlichen Ort. Eine komplette Wohnung war quasi geräumt worden. Schenkt man den Aussagen der Miliz Glauben, muss an jenen Tagen die ganze Stadt vor wilder Schimpferei erbebt sein. Geflucht haben soll auch der Schweizer — «auf schweizerisch» sagte der ihn verhaftende Milizionär vor Gericht aus. Die in Russland gerne mit dem Wort «Prophylaxe» schöngeredeten Einschüchterungsversuche, die sich auch gegen Familienangehörige richteten, setzten sich teilweise auch nach dem G8 fort. Ein Moskauer Anarchist berichtete beispielsweise von einem Hausbesuch bei seinen Eltern. Sollte der Sohn seine politischen Aktivitäten nicht einstellen, könne der Vater, ein selbstständiger mittelständischer Unternehmer, mit Schwierigkeiten rechnen. Bei der Steuererklärung ließen sich ganz leicht Fehler ausfindig machen …
Die Dezentralisierung repressiver Maßnahmen im Zusammenhang mit dem G8 hat sich für die russischen Staatsorgane rundum bewährt. Denn zum einen ließ sich so die öffentliche Berichterstattung auf ein Minimum reduzieren, zum anderen dürfte sich die hervorragend koordinierte Übungsmaßnahme beim regionalen Staatsschutzapparat positiv auf dessen Einsatzbereitschaft in der Zukunft auswirken. Der Operation «Schutzwall» könnte somit Modellcharakter zukommen.
Operation «Schutzwall» als Modell?
Trotz der widrigen Begleitumstände und oft mit großer Verspätung gelangten viele dennoch nach St. Petersburg. Das Sozialforum fand formal zwar statt, doch der bereits im Voraus gestörte Ablauf und die Stimmung erzeugten keine wirklich produktive oder gar kämpferische Arbeitsatmosphäre. Und entgegen der Versicherungen aus Moskau hatten die örtlichen Behörden alle für die Zeit des Gipfels angemeldeten 25 Demonstrationen und Kundgebungen mit Ausnahme der der Kommunistischen Partei KPRF verboten. Das Sozialforum durfte seinen Protest lediglich jenseits der Stadionumzäunung äußern. Offenbar hatte sich die Hardcore-Fraktion aus der Präsidialadministration, die für einen durchweg repressiven Umgang mit allen Protestwilligen plädierte, in letzter Minute über die ursprünglich vereinbarte Linie hinweg gesetzt.
Die Kolonne der KPRF mit weniger als 300 Menschen hinterließ zahlenmäßig einen recht kläglichen Eindruck. Beim Überqueren der Hauptstraße, des Nevskij Prospekts, kam es zu einem Zwischenfall, als OMON-Einheiten einige zum Durchbruch auf den Prospekt entschlossene DemonstrantInnen verprügelten und anschließen festnahmen. In Strelna, wo der offizielle Gipfel tagte, gingen zwei Kommunisten in einen Hungerstreik gegen den G8. Nach einer ersten Festnahme fand bis zur erneuten Verhaftung ein weiterer Hungerstreik statt — dieses Mal gegen die umfangreichen Repressionen.
Inhaltliche Vermittlung der G8-Kritik nicht gelungen
Das Netzwerk gegen den G8 konzentrierte seine Aktivitäten auf den Folgetag, den 16. Juli. Am frühen Morgen versuchten etwa 40 Personen aus unterschiedlichen Ländern West- und Osteuropas mit Plakaten und Transparenten ausgestattet eine Blockade vor einem der Nobelhotels auf dem Nevskij Prospekt zu errichten, in dem offizielle Delegationsangehörige des G8 untergebracht waren. Das Ergebnis waren über 30 Festnahmen mit anschließender Verurteilung zu ein bis drei Tagen Haft. Die Urteile standen offenbar bereits vor Beginn der Verhandlungen fest. Mit Festnahmen endeten auch eine Kundgebung gegen den Krieg in Tschetschenien und eine Pink-and-Silver-Parade gegen den G8. Insgesamt waren es über 80 innerhalb eines Tages — ein Rekord für die kleine anarchistische Bewegung in Russland.
Vor dem Hintergrund des Gesamtszenarios steht außer Zweifel, dass das anarchistisch geprägte Netzwerk am adäquatesten auf die Herausforderung des Gipfels reagiert hat. Erstmals seit Jahren gelang eine umfangreiche Mobilisierung von Leuten selbst aus entfernt gelegenen Regionen jenseits des Urals. Das Libertäre Forum war das bislang größte Koordinationstreffen undogmatischer Linker mit internationaler Beteiligung in Russland. Etliche bislang neue, aber an sich unverzichtbare Organisationsformen wie das Legal Team, eine Sanigruppe oder das Libertäre Informations- und Nachrichtenkollektiv LINK haben sich erstmals etabliert. Im Vergleich zu früheren Kampagnen verliefen die Vorbereitungen im Rahmen des Netzwerks geradezu bestens koordiniert. In Bezug auf die Proteste selbst und die Vermittlung von Zielen und inhaltlicher Kritik an die Öffentlichkeit war das Netzwerk allerdings weniger erfolgreich.
Es mutet auf den ersten Blick paradox an, dass der Gegenstand von Protestaktionen dermaßen in den Hintergrund rücken kann, dass er fast in Vergessenheit gerät. An diesem Punkt kommt sich das gesamte hier aufgeführte politische Spektrum äußerst nahe. Nicht, weil niemand in der Lage wäre, Kritik am G8 zu formulieren, obwohl dies in Teilen auch eine Rolle gespielt haben mag, sondern weil der G8 bei den russischen Protestbewegungen keinerlei Relevanz besitzt. Das gesamte oppositionelle Spektrum ist entweder auf die Durchsetzung partikulärer Machtinteressen ausgerichtet oder aber durch die zunehmend repressive und antisoziale Politik des Kremls in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Darüber hinaus sind die insgesamt äußerst schwachen sozialen Bewegungen trotz eines gewissen Aufschwungs nach wie vor nicht in der Lage, strategische Ziele zu formulieren, geschweige denn umzusetzen. Dabei lassen sich gerade auf regionaler und lokaler Ebene viel mehr Anlässe für Widerstand finden, als durch die bestehenden Strukturen auch nur annähernd zu bewältigen wären.
Noch eines haben die Ereignisse in Petersburg zum wiederholten Male offen gelegt — Russland ist im Westen nach wie vor kein Bestandteil linken Gipfelhoppings. Auf dem Sozialforum blieben die russischen TeilnehmerInnen weitgehend unter sich. Vielleicht lockt das Ferienparadis Krim ja mehr Interessierte an. Dort oder in einem grenznahen Gebiet in der Westukraine ist für das kommende Jahr ein Protestcamp geplant, welches die ukrainische Abschiebepraxis genauer unter die Lupe nehmen soll.
Ute Weinmann