Die Proteste der sibirischen Gewerkschaften haben bislang kaum Verbesserungen bewirkt. Nun bereiten die Ölarbeiter radikalere Aktionen vor.
Surgut, Megion, Nizhnevartovsk – die Namen der Orte im autonomen Verwaltungsgebiet Hanty-Mansijsk dürften kaum einem westlichen Verbraucher geläufig sein. In dieser westsibirischen Region werden etwa 60 Prozent des gesamten russischen Öls gefördert. Die Regierung verdankt 20 Prozent ihres Budgets der Ölwirtschaft in dieser unwirtlichen Gegend, und man sollte meinen, dass deren 1,5 Millionen Einwohner von dem Reichtum zumindest ein wenig profitieren.
Dass dem so nicht ist, weiß selbst in Russland nur, wer es wissen will. Die staatlichen Fernsehkanäle haben im vergangenen Sommer und Herbst die zahlreichen Protestaktionen der Ölarbeiter komplett ignoriert. Tausende waren auf die Straße gegangen, einige spontane Streiks fanden statt. Es könnten nach Meinung von Pjotr Lesshik, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft im Unternehmen Slavneft-Megionneftegaz in Megion, jedoch wesentlich mehr sein. »Die Leute glauben immer noch, dass Putin und die Regierung womöglich nicht richtig informiert seien über die katastrophale soziale Situation in der Region, und hoffen weiterhin auf deren Unterstützung«, sagte er der Jungle World.
Das Unternehmen Megionneftegaz gehört dem staatlich kontrollierten Energiekonzern Gazprom und dem Konzern BP. Die Zustände bei anderen Unternehmen seien ähnlich, doch bei Lukoil sei es am schlimmsten, sagt Lesshik: »Da traut sich keiner mehr, den Mund aufzumachen, wie im Jahr 1937.«
Der Grundlohn eines Ölarbeiters in Surgut lag vor den Protesten monatlich unter 100 Euro, Surgutneftegaz zahlt nun 20 Prozent mehr. Hinzu kommen Prämien, die bis 80 Prozent des Gesamtlohns ausmachen. Diese Prämien werden jedoch systematisch einbehalten. Als Begründung werden meist geringfügige Verstöße gegen die Vorschriften wie Verschmutzung oder Fehlen der Arbeitskleidung angeführt. Spinde oder gar Umkleideräume stehen nicht zur Verfügung. Doch Verweise auf arbeitsrechtliche Vorschriften, die das Unternehmen einzuhalten habe, werden mit Drohungen, in manchen Fällen auch mit einer Kündigung beantwortet. Gewerkschaftsaktivisten werden gesondert bestraft und manchmal sogar am Arbeitsplatz verprügelt. Von den Vorgesetzten müssen sich die Beschäftigten als »Arbeitsvieh« beschimpfen lassen.
Anstelle der ausgebildeten lokalen Arbeitskräfte werden immer häufiger tadschikische und usbekische Arbeiter mit Zeitverträgen beschäftigt, für die kein Wohnraum bereitgestellt wird. Selbst die örtliche Bevölkerung haust oftmals in »Balki«, in die Erde eingelassenen provisorischen Baracken. Diese machen in Megion 60 Prozent des Wohnraums aus. Eine Verbesserung ist nicht zu erwarten. Der russische Wirtschaftsminister German Gref findet die Ausgaben für den Unterhalt der Siedlungsgebiete im Norden sogar zu hoch und plädiert mit Unterstützung von Gazprom für eine Reduzierung der Bevölkerung in Hanty-Manskijsk auf 280 000.
»Wir sind alle gesetzlich vorgegebenen Wege gegangen, aber nicht ein Versuch hat uns weitergebracht«, sagt Lesshik. Die Gewerkschafter sind zu dem Schluss gekommen, dass sie ihre Probleme anders lösen müssen. Die Situation ist derart angespannt, dass es früher oder später zu radikalen Aktionen kommen wird, und diese könnten die Ölförderung in der ganzen Region zumindest für einige Zeit lahm legen.
Würde die Opposition um den ehemaligen Ministerpräsidenten Michail Kasjanow dieses Protestpotenzial nutzen, könnte sie die Regierung an einer empfindlichen Stelle treffen. Dies mag der Grund für die vorübergehende Festnahme von vier Aktivisten aus dem Umfeld des Oppositionsbündnisses »Anderes Russland« Ende Januar auf dem Moskauer Flughafen Domodedovo gewesen sein. Sie wollten gerade ein Flugzeug nach Surgut besteigen, um dort Gespräche über eine koordinierte Protestaktion im Februar zu führen.
Ute Weinmann