In russischen Städten protestieren Anwohnerinitiativen gegen mafiöse Baufirmen, die von staatlichen Stellen unterstützt werden.
Wer von Protestkultur spricht, bezieht sich meist auf Vorbilder in Westeuropa oder Lateinamerika. Es ist schon eine Weile her, dass Russland mit einer Revolution internationale Aufmerksamkeit erregte. Derzeit gilt die Bevölkerung des Landes gemeinhin als autoritätshörig und somit Protesten wenig zugeneigt, der aufmüpfigere Teil ist den einen zu kommunistisch, den anderen zu sehr von der liberalen Opposition geprägt. Doch das Protestverhalten ganz normaler Leute ist aus dem oft wenig beschaulichen russischen Alltag längst nicht mehr wegzudenken.
Angefangen haben sie mit Beschwerdebriefen und braven Kundgebungen. Die Bewohner des Hauses Nr. 41 auf der Marschall-Birjuzowa-Straße im Nordosten von Moskau sahen sich mit einem ungenehmigten Bauvorhaben direkt vor ihrer Haustür konfrontiert. Ihr Protest führte sie nach Monaten bis zum Gebietspräfekten, der sich schließlich genötigt sah, eine Verordnung zur Einstellung der ungesetzlichen Bauarbeiten zu unterschreiben. Die für ihr skrupelloses und mafiöses Vorgehen bekannte Baufirma Don-stroj ließ sich davon indes nicht beeindrucken und setzte die begonnene Aushebung der Baugrube ungehindert fort.
Doch Mitte Juli verloren die Anwohner die Geduld. Mit Unterstützung aus den Reihen kommunistischer Jugendorganisationen versperrten sie die Zufahrt zur Baustelle mit Parkbänken, Mülleimern, Eisenrohren und anderen gegenständen. In den folgenden Tagen fanden friedliche Kundgebungen statt, bis die Situation am 22. Juli eskalierte. Vier Männer in Sportanzügen tauchten unvermittelt auf und begannen, auf die Umstehenden mit Baseballschlägern einzuschlagen und aus Luftpistolen zu schießen. Mindestens fünf Personen trugen Knochenbrüche und andere Verletzungen davon.
Der Moskauer lokale Fernsehsender TWZ behauptete, bei den Angreifern habe es sich um »unbekannte Personen kaukasischer Nationalität ohne gültige Registrierung« gehandelt, die »keinerlei Bezug zur Firma Don-stroj haben«. Die Anwohnerinitiative wies indes darauf hin, dass einige ihrer 30 zum Zeitpunkt des Vorfalls anwesenden Mitglieder gesehen hätten, wie die Angreifer von der Baustelle kamen und sich auch wieder dorthin zurückbegeben haben. Herbeigerufene Milizionäre hätten sich zudem deren Ausweise zeigen lassen, die sie als Wachpersonal von Don-stroj auswiesen.
Tatsächlich sind solche Methoden zu einer weit verbreiteten Praxis geworden. In Moskau, wo ein Fünftel des russischen Baugeschäfts abgewickelt wird, macht die Branche vor nichts Halt. Der seit Jahren andauernde Immobilienboom ist ein Milliardengeschäft, und der Nachfrage nach geeigneten Baugrundstücken fallen nicht allein rar werdende Grünflächen und Spielplätze zum Opfer. Selbst unter Denkmalschutz gestellte historische Gebäude im Stadtkern müssen weichen. Auch in anderen Städten mit einem profitablen Immobilienmarkt decken korrupte Behörden und die Miliz mafiöse Bauunternehmen.
Dem stellt die wachsende Zahl an Bürgerinitiativen allerdings immer mehr Entschlossenheit und Einfallsreichtum entgegen. Längst haben sich lokale und überregionale Komitees zur Koordinierung ihrer Protestaktivitäten gebildet. Die Teilerfolge einiger Proteste machen Mut, während so manche der unverhofft zu Widerständlern avancierten Bürger auf die Kriminalisierung ihrer Aktivitäten immer verbissener reagieren.
Weil sie es gewagt hatte, Anzeige gegen die Miliz wegen Körperverletzung bei einer Kundgebung zu erstatten, wird Tatjana Kadijewa von der Initiativgruppe Zhulebino derzeit der Prozess gemacht. Ihr werden Verstoß gegen die Versammlungsordnung und Hooliganismus vorgeworfen.
Ein kurz vor der Rente stehender Mann aus einer Initiative im Westen Moskaus brachte auf einer Kundgebung Mitte September stellvertretend für viele andere seine Empörung auf den Punkt: »Ich habe mein ganzes Leben lang nie gegen Recht und Gesetz verstoßen, und nun werde ich mit einem Mal zur Miliz zitiert, weil ein Verfahren gegen mich wegen Extremismus eingeleitet wurde.« Doch zur effektiven Einschüchterung der Bevölkerung reichen die Maßnahmen der so genannten Rechtsschutzorgane nicht aus.
Ute Weinmann