Seit Monaten demonstriert in Moskau die oppositionelle Bewegung »Strategie 31« für das Recht auf Versammlungsfreiheit. Bisher waren die Kundgebungen der Regierungskritiker immer verboten. Im Oktober genehmigte die Moskauer Stadtverwaltung zum ersten Mal eine Demonstration. Dabei kam es zu einer Spaltung in der Bewegung.
»Nieder mit der Berliner Mauer!« Die Stimme ist nicht leicht zu orten. Sie bewegt sich schnell weg von der grauen Umzäunung, dem traditionellen »Käfig«, ohne den in Moskau seit Jahren kaum eine genehmigte Kundgebung stattfinden darf und dem jener emotionale Aufschrei eines empörten Demonstranten gilt. Milizionäre in grauer Uniform tragen den Mann im Laufschritt zu einem der in Sichtweite aufgereihten Busse für Randalierer und andere Uneinsichtige. Es ist der 31. Oktober. Der Ort des Geschehens befindet sich im Zentrum der russischen Hauptstadt, dem Triumphplatz, direkt hinter dem Denkmal für den sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski.
Diesen Platz haben die liberale Opposition und der Hauptinitiator der Kampagne, der Vorsitzende der verbotenen Nationalbolschewistischen Partei, Eduard Limonow, ausgewählt, um am 31. eines jeden Monats für die nach Artikel 31 der russischen Verfassung garantierte Versammlungsfreiheit zu demonstrieren. Aber auch, um wie zu Zeiten der Perestroika mit ihren Massendemonstrationen einen Ort für politische Zusammenkünfte auf der Straße zu etablieren, sollte es erneut zu Unruhe unter der unzufriedenen Bevölkerung kommen. Seit Juli 2009 mühten sich die Veranstalter ab, eine Genehmigung für ihr Anliegen zu erhalten. Die Moskauer Behörden reagierten jedes Mal abweisend, der Ort sei schon vergeben. Am »Tag X« fanden jeweils eiligst organisierte Alternativveranstaltungen statt, oft mit Hilfe der Kremljugend.
Die Anhänger der Bewegung »Strategie 31« erschienen ebenfalls, wenngleich ungeladen. Anfangs waren es nur wenige, doch mit der Zeit wuchs ihre Zahl auf mehrere hundert an. Sie erschienen mit Schildern in der Hand, auf denen nur die Zahl 31 geschrieben stand, und wurden dafür regelmäßig unter Anwendung grober Gewalt festgenommen, während wenige Meter weiter auf der Konkurrenzveranstaltung belanglose Reden ertönten oder die durch ein mächtiges Soundsystem verstärkte russische Nationalhymne erklang.
Die konstanten Verbote sicherten der »Strategie 31« indes ein erhöhtes Medieninteresse, insbesondere im Ausland. Wo andere gegen die herrschenden Zustände legal demonstrieren – wenngleich nicht hinter Majakowskis Rücken – und sich kaum jemand die Mühe macht, darüber zu berichten, konnte die russische Opposition sich gewiss sein, gehört und gesehen zu werden. Aber nicht erhört. Zumindest nicht bis zum Machtwechsel in der Moskauer Stadtverwaltung.
Der neue Bürgermeister Sergej Sobjanin rang sich zu einem klugen Schachzug durch. Für den 31. Oktober hatten die Veranstalter 1 500 Teilnehmer angemeldet, genehmigt wurde eine Kundgebung mit 800 Personen.
Dem Großteil des Bündnisses reichte das für eine Siegesmeldung aus. Zu dem von Staats wegen sanktionierten Spektakel erschienen mehr Mitfühlende und Schaulustige als je zuvor.
Limonow jedoch passten die Bedingungen der Moskauer Behörde nicht, und er hielt seine Anhänger dazu an, außerhalb des grauen Zauns aufzumarschieren, woraufhin die Miliz seine Leute hinter die Absperrung zu den legalen Demonstranten trug und das Oppositionsbündnis im Streit auseinanderging. Damit hat Sobjanin der liberalen Opposition geschadet, wenn auch unbeabsichtigt.
Dass Eduard Limonow keinen Kompromiss eingehen würde, lag auf der Hand. Sein Metier ist nicht die Realpolitik, sondern die Eskalation. Dafür war der Erfinder des postsowjetischen Nationalbolschewismus der liberalen Opposition gut genug, als es ihr an einer radikalen Basis und fesselnden Ideen mangelte. Nun aber ist er wieder der Nestbeschmutzer wie vor seiner Annäherung an die Liberalen, die sich seiner nun entledigen wollen, weil er nicht in ihr Konzept passt. Limonow seinerseits ist sich im Klaren darüber, dass unter den gegebenen starren politischen Verhältnissen ohne die Konfrontation auf der Straße nichts zu gewinnen ist. Limonow gibt selbst offen zu, dass er keine Liberalisierung der bislang gängigen Praxis anstrebt, Kundgebungen selektiv zu unterbinden. Die »Strategie 31« jedenfalls hat sich mit der Genehmigung vom Oktober selbst überlebt.
Zum Tragen kommt hier aber noch eine weitere Schwachstelle der liberalen Opposition, nämlich ihre Konzentration auf die Einhaltung hehrer Prinzipien, anstatt sich mit den konkreten Fragen des sozialpolitischen Desasters im heutigen Russland ausreichend zu beschäftigen. Die Fixierung auf die Verfassung ist aus dem historischen Kontext zu verstehen. Zu Sowjetzeiten orientierten sich die Dissidenten an ihr, schien sie doch die einzige greifbare Verbindung zu einer Gesellschaftsordnung darzustellen, die nicht von den Versprechen einer gerechten Zukunft zehrt, sondern Rechte für ein würdiges Leben im Hier und Jetzt garantiert. Nichts gegen die russische Verfassung, doch haben alle, ob Bürokraten oder Parteigänger jeglicher Couleur, gelernt, die Verfassung zu beschwören, solange dies einen Nutzen verspricht. Der Kreml hält überdies eine Menge abstrakter Kritik aus. Anzeichen von Nervosität zeigt er erst, wenn die Menschen auf der Straße konkrete Vergehen kritisieren und zur Tat schreiten, wie bei den sozialen Massenprotesten von 2005. Da ging es nicht um die Verfassung, und nach einer Versammlungsgenehmigung wurde erst gar nicht gefragt.
Ute Weinmann