Bereits vor der Wahl am 19. Dezember wird der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko schon als Sieger gefeiert. Dass der Wahlkampf derzeit freier als sonst verläuft, ändert wenig an den autoritären Verhältnissen im Lande.
»Sanja bleibt uns erhalten, alles wird gut«. Diese Message aus einem Lied der Gruppe Rocker Joker versteht in Weißrussland jeder, denn sie bezieht sich auf die Präsidentschaftswahlen am 19. Dezember und den alten und vermutlich neuen Präsidenten Alexander Lukaschenko. »Sanja« ist die Koseform von Alexander und klingt familiärer als das in Weißrussland verbreitete paternalistische Batka, »Väterchen«. Ansonsten ist dem Lied nicht viel zu entnehmen, außer dass Weißrussland »der sauberste Ort auf dem Globus« ist. Aber das weiß in der postsozialistischen Republik schließlich jedes Kind.
Das Informationsministerium in Minsk empfiehlt den Radiostationen, den Song – in der Clipversion des Fernsehsenders ONT tanzen junge Frauen in traditionellen Trachten folkloristische Tänze dazu – in regelmäßigen Abständen aufzulegen. Das Musikerduo hingegen bestreitet, mit ihrem Hit Wahlkampf zu betreiben, mit Politik hätten sie schließlich überhaupt nichts zu tun.
Über mangelnde Unterstützung jedenfalls kann sich der amtierende Batka nicht beschweren. Im Internet betreiben seine Anhänger eifrig Wahlkampf für ihn. Per Mausklick können die Bürgerinnen und Bürger auf dem Blog des Spitzenkandidaten ihre Zustimmung zum Wahlprogramm bekunden und damit einen Beitrag zur Popularisierung eines der dienstältesten Landesfürsten der postsowjetischen Zeit leisten.
Das Programm selbst ist kurz gefasst und greift auf Altbewährtes zurück. Lukaschenko will die Souveränität von Weißrussland stärken, sich nicht zwischen dem Osten und dem Westen entscheiden und sich nicht zum Anhängsel degradieren lassen. Der Staat existiere für »das Volk« und der Mensch stehe, so Lukaschenko, im Mittelpunkt seiner Politik. Der Präsident strebt einen Platz unter den 50 am weitestesten entwickelten Ländern der Erde an. Bis zum Jahr 2015 soll sich der Lebensstandard in Weißrussland dem in Europa angenähert haben. Soweit zur Rhetorik des obersten Staatsmanns. Initiativen jenseits staatlich gelenkter Politik haben darin keinen Platz. Hinsichtlich des Lebensstandards stehen die Chancen Weißrusslands nur dann gut, wenn er bei den europäischen Nachbarn sinkt, so wie in Griechenland. Die Statistikbehörde gibt für das Jahr 2009 einen landesweiten Durchschnittslohn von rund 240 Euro an, im Bereich Wissenschaft und Telekommunikation liegen die Zahlen um etwa 100 Euro höher. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt unter einem Prozent. Die Renten liegen zwischen 75 und 110 Euro, wobei allein für die Betriebskosten einer Wohnung mindestens 50 Euro aufgebracht werden müssen.
Gäbe es in Weißrussland ein korrektes Wahlverfahren, stünde die Wiederwahl Lukaschenkos in Frage. Der an den Teilnahmevorgaben gescheiterte Kandidat der Grünen Partei, Jurij Gluschakow, schätzt Lukaschenkos Popularität mit allerhöchstens 35 bis 45 Prozent ein. »Das hat mit der neoliberalen Politik zu tun, die das herrschende Regime in Weißrussland betreibt, vor allem in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik«, sagte Gluschakow der Jungle World. Er nennt die Abschaffung sozialer Vergünstigungen sowie Änderungen im Arbeitsrecht, die es erlauben, Löhne zu senken und missliebige Arbeitnehmer mit der Drohung einer jederzeit mögliche Entlassung unter Druck zu setzen; die Einfrierung der Löhne auf Geheiß des Internationalen Währungsfonds und die Kommerzialisierung des Bildungs- und Gesundheitssektors.
»In der herrschenden Bürokratie gibt es keine Konkurrenz. Der von außen betrachtet grenzenlose Autoritarismus von Lukaschenko stützt sich auf einen schweigenden Konsens«, so erklärt Gluschakow die Stabilität des Systems. »Der Präsident trifft politische Entscheidungen, dafür bestimmen die Clans in der Nomenklatur über das Business, vor allem auf regionaler Ebene.«
Im Übrigen gestaltet sich der Wahlkampf wesentlich liberaler, als man es hier gewöhnt ist. Die Konfrontation mit Russland zwang Lukaschenko dazu, auf den Westen zuzugehen, was mit Wohlwollen und dem Versprechen einer möglichen Bereitstellung von Finanzmitteln aufgenommen würde. Zwar sagte der weißrussische Präsident unlängst, er habe sich mit seinem russischen Amtskollegen versöhnt und bemühe sich um eine freundschaftliche Zusammenarbeit. Gleichzeitig aber hält er an den demokratischen Zugeständnissen fest. Dazu zählt unter anderem, dass vor den Wahlen, anders als sonst üblich, Anhänger der Opposition nach unangemeldeten Demonstrationen mit einer Geldstrafe statt ein- oder mehrtägiger Haft davonkommen. Kleinere Veranstaltungen zu Agitationszwecken erhalten sogar eine offizielle Genehmigung, und in einigen lokalen Wahlkommissionen sind sogar andere politische Parteien vertreten.
Doch diese vorübergehende Liberalisierung der politischen Praxis ändert kaum etwas an den weiterhin gültigen Rechtsgrundlagen. Weder fanden die Forderungen nach Abschaffung des Paragrafen 193 des Strafgesetzbuchs Gehör, der die Mitgliedschaft in nicht registrierten Organisationen unter Strafe stellt, noch wurde das strenge Versammlungsgesetz geändert. Wer eine politische Kundgebung beantragt, muss mit einer Absage rechnen, und nach den Wahlen wird sich wohl der langjährige Umgang mit nicht genehmigten Demonstrationen wieder durchsetzen.
Auch unter den vorübergehend geringfügig liberalisierten Verhältnissen kommt der Wahlkampf offenbar nicht ohne den Versuch der Einschüchterung kritischer Kandidaten aus. Viktor Tereschtschenko, einer von insgesamt zehn zur Wahl antretenden Kandidaten, überlegte sogar, seine Kandidatur zurückzuziehen. Der Grund dafür war, dass sein Auto wiederholt aufgebrochen ernsthafte Schäden festgestellt wurden, die zu einem Unfall hätten führen können. Tereschtschenko spricht sich gegen ausländische Kapitalinvestitionen aus und strebt die Unabhängigkeit des Landes von ausländischer Währung an. Die Wahlprogramme anderer Kandidaten beinhalten nationalistische Rhetorik, rein neoliberale Ansätze oder etwa die Forderung nach einer vollen Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation innerhalb der nächsten zwei Jahre.
Jurij Gluschakow wäre mit einem sozialistischen Wahlprogramm angetreten.»Ich war der einzige linke Kandidat«, sagt er. »Ich wollte beweisen, dass es eine Alternative zum Neoliberalismus gibt.« Mit den nötigen Ressourcen hätte der Grüne womöglich die für die Registrierung erforderlichen 100 000 Unterschriften zusammenbekommen. Überhaupt kommen Umweltthemen bei den derzeitigen Wahlen zu kurz, was der Grünen Partei bei einer Kandidatur in Verbindung mit sozialen Forderungen zu deutlich mehr Popularität hätte verhelfen können. Denn nach wie vor hat Weißrussland mit den Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 zu kämpfen.
Doch vorerst steht das Thema Wirtschaftsliberalisierung im Vordergrund. »Sanja« Lukaschenko hat unter jenem Titel bereits die Direktive Nr. 4 vorbereitet und will nach seinem wahrscheinlichen Wahlsieg eine Welle der Privatisierung einleiten. Es braucht nicht einmal einen Führungswechsel, um in der »letzten Diktatur Europas« eine wirtschaftliberale Politik durchzusetzen.
Ute Weinmann