Julia Timoschenko erregt die Gemüter, wie es sonst kein ukrainischer Politiker vermag. Anhänger und Gegner tragen ihre Differenzen manchmal handgreiflich aus. Die Frau mit dem Markenzeichen Flechtfrisur liebt effektvolle Auftritte. Seit dem 5. August ist die ehemalige Premierministerin jedoch gezwungen, mit eingeschränkten Mitteln aus der Untersuchungshaft heraus zu agieren. Amtsmissbrauch lautet der Vorwurf gegen die 50jährige vormalige »Gasprinzessin«, die seit Juni in Kiew vor Gericht steht. Sie soll mehr als 200 Millionen Euro zweckentfremdet haben, im Zentrum des Prozesses steht der im Januar 2009 unter ihrer Leitung ausgehandelte und unterzeichnete Vertrag über russische Gaslieferungen an die Ukraine. Die ungünstigen Konditionen seien den Staat teuer zu stehen gekommen.
Damit wagen sich die Ankläger weit vor, oder besser gesagt, Präsident Viktor Janukowitsch wagt sich weit vor. Denn sein Bestreben, eine ungeliebte Oppositionspolitikerin zumindest zeitweise aus dem politischen Tagesgeschäft zu drängen, gilt nicht nur Timoschenkos Anhängern, sondern auch den westlichen Regierungen als Motiv für den Prozess. Janukowitsch ließ sich auf dieses riskante Unternehmen ein, obwohl er und Timoschenko inhaltlich gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Janukowitschs wirtschaftsliberale Reformen, beispielsweise hinsichtlich der Renten und der Kommerzialisierung der Bildung, basieren auf der Vorarbeit von Timoschenkos Regierung.
Allerdings könnte außenpolitisch einiges in Bewegung geraten. Russland unterstützt die als prowestlich geltende Timoschenko indirekt, indem es dem umstrittenen Gasabkommen Rechtsstaatlichkeit bescheinigt. An vermutlich sehr komplizierten Neuverhandlungen würde Janukowitsch wohl scheitern, denn seinen Bonus hat er verspielt. Der anfangs als russlandfreundlich eingeschätzte ukrainische Präsident hat sich aus Moskauer Perspektive keineswegs als optimaler Partner erwiesen. Zwar ist der Verbleib der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim gesichert, doch stellt unter anderem die Annäherung der Ukraine an die Nato ein Reizthema dar. Kommt es zu einer Verurteilung Timoschenkos, verärgert die ukrainische Regierung den Westen und Russland. Nun begeht die Ukraine auf symbolische Weise ihre 20jährige Unabhängigkeit. Am Nationalfeiertag am Mittwoch voriger Woche wurde nicht nur gefeiert, Tausende Anhänger Timoschenkos protestierten gegen den Prozess.
Ute Weinmann