Falsch gezählt, falsch kalkuliert

Nach den manipulierten Parlamentswahlen in Russland nimmt der Protest der Opposition zu.

Alle haben sich geirrt. Das ist die wohl bemerkenswerteste Gewissheit der diesjährigen Duma-Wahlen vom 4. Dezember. Innerhalb von weniger als einer Woche ist der in Russland weitverbreitete Fatalismus einem vorsichtigen Optimismus gewichen. Wahlmanipulationen und Betrug hatten ein bislang unbekanntes Ausmaß erreicht. Die regierende Partei »Einiges Russland« erzielte einen Stimmenanteil von knapp 50 Prozent, was ihr 238 von 450 Sitzen im Parlament einbringt, da kleinere Parteien an der Sieben-Prozent-Hürde scheiterten. Die Wahl rief eine Protestwelle hervor, wie sie das Land seit Anfang der neunziger Jahre nicht gesehen hat. Und wie sie offenbar weder die Regierung noch die Opposition erwartet hatten.

In den ersten Tagen nach den Wahlen schien in Moskau noch alles wie gewohnt, auf unangemeldete Kundgebungen und Demonstrationen reagierte die Polizei mit Gewalt. Hunderte wurden festgenommen, einige führende Politiker der liberalen und linken Opposition kamen vorsorglich über zwei Wochen in Gewahrsam.

Angespornt durch zahlreiche Unmutsäußerungen, rief die Opposition zu einer Großkundgebung am Samstag unter dem Motto »Für ehrliche Wahlen« auf. Auf Facebook hatten über 36 000 Personen ihre Teilnahme zugesagt, es erschienen weitaus mehr, von bis zu 50 000 ist in Zeitungen die Rede. Aus Angst vor Ausschreitungen ließen sich zudem etliche Moskauerinnen und Moskauer abschrecken, doch verlief der Protest in der Hauptstadt friedlich, während es in einigen anderen russischen Städten zu Festnahmen kam. Um wenigstens Schülerinnen und Schüler der oberen Klassen von einer Teilnahme an der Kundgebung abzuhalten, setzten Moskauer Behörden spontan obligatorische Prüfungen im Fach Russisch an.

Die Protestierenden forderten Neuwahlen, die Absetzung des Leiters der Wahlkommission, Wladimir Tschurow, die Freilassung aller im Zusammenhang mit den Wahlen festgenommenen politischen Gefangenen und die Legalisierung aller Oppositionsparteien. Doch nicht allein die Zusammensetzung des Parlaments beunruhigt die Menschen. Vielmehr drängt die Aussicht auf die Rückkehr des Premierministers Wladimir Putin ins Präsidentenamt im kommenden März viele Russinnen und Russen, darunter etliche junge Leute und Angehörige der Mittelschicht, dazu, ihren Protest öffentlich kundzutun.

Als politische Subjekte verstehen sich indes die wenigsten. Die spärlichen Aufrufe zu radikalem Handeln trafen ebenso wenig auf Zustimmung wie die Behauptungen Konstantin Krylows, des einzigen Vertreters der nationalistischen Rechten auf der Rednerbühne, der vom »Beginn einer russischen Revolution« schwärmte. Kritik an sozialer Ungleichheit steht bislang nicht auf der Tagesordnung, stattdessen dominiert neben dem Wahlbetrug das Thema Korruption. Dieses Thema und die nationalistische Komponente bedient am besten der bekannte Blogger Aleksej Nawalnyj, der, sobald er in der kommenden Woche aus dem Polizeigewahrsam entlassen wird, seinen bereits jetzt erreichten Status als Ikone der Opposition voll auskosten kann.

Damit besitzt Nawalnyj einen großen Vorsprung vor seinen Kollegen Wladimir Ryzhkow von der Partei für Volksfreiheit und Boris Nemtsow von der Antikorruptionspartei Parnas, die bislang als Anführer der neuen Protestbewegung agierten. Ihr Auftreten führte am Samstag aber nicht zu Begeisterungsstürmen. Womöglich begingen sie einen taktischen Fehler: Ursprünglich sollte die Kundgebung direkt vor den Mauern des Kreml stattfinden, doch nach einer Absprache mit der Regierung stimmten die Oppositionellen einem anderen Ort zu. Ohne über ein entsprechendes Mandat zu verfügen, machten Nemtsow und Ryzhkow Zugeständnisse. Da die Regierung nicht bereit ist, auf die Forderungen der Opposition einzugehen, plant diese eine weitere Großkundgebung am 24. Dezember.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2011/50/44528.html

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