Russland zwischen neuer Protestbewegung und einem alten neuen Präsidenten
Wer in Russland angesichts nach den Parlamentswahlen im Dezember unerwartet ausgebrochener Massenproteste mit einen schnellen Umschwung der Machtverhältnisse gerechnet hatte, irrte gewaltig. Enttäuschungen blieben nicht aus, zumal die neue Protestbewegung die Wiederwahl von Wladimir Putin keinesfalls verhindern konnte. Der ehemalige russische Präsident sicherte sich am 4. März eine erneute Amtszeit von nun sechs Jahren. Pessimisten gehen gar von zwölf Jahren aus, denn laut Verfassung darf ein amtierender Präsident einmal in Folge zur Wiederwahl antreten bevor er eine Pause einlegen muss. Aber bis dahin bleibt noch geraume Zeit, in der sich der Kreml auf neue Gegebenheiten und eine gewachsene Protestbereitschaft in der Bevölkerung einstellen muss. Doch zunächst gilt herauszufinden, was sich in den vergangenen Wintermonaten tatsächlich abgespielt hat. Diesbezüglich gehen die Meinungen weit auseinander. Während so mancher vom längst erträumten Erwachen der russischen Zivilgesellschaft schwärmt, sehen sich andere um greifbar geglaubte grundlegende Veränderungen des festgefahrenen Machtgefüges im Land betrogen und machen dafür nicht zuletzt das defensiv agierende Organisationskomitee der Massenprotestveranstaltungen in Moskau verantwortlich. Dieses hat sich zwar seinem Selbstverständnis nach nicht als politische Plattform etabliert, sondern sich eher auf seine technische Aufgaben für die Durchführung der Großkundgebungen konzentriert. Allerdings taten sich Einzelne seiner Mitglieder durch Kompromissbereitschaft und ihr Bestreben hervor, mit der russischen Staatsführung in Dialog zu treten, obwohl es dafür keine Verhandlungsmasse gab. Ganz zu schweigen davon, dass ihnen niemand ein entsprechendes Mandat erteilt hatte, denn dafür war schlichtweg keinerlei demokratisches Prozedere vorgesehen und die für faire Wahlen Protestierenden ihrerseits hatten ein solches auch gar nicht eingefordert.
Im russischen Establishment verursachten die Proteste zunächst eine gewisse Unsicherheit, spätestens aber die plangemäße Umsetzung der Wiederkehr von Premierminister Wladimir Putin in das von ihm über acht Jahre bekleidete Präsidentenamt dürfte die Elite veranlasst haben aufzuatmen. Denn die Spielregeln werden sich in den kommenden Jahren kaum modifizieren, was in gewisser Weise auch für die antisystemische Opposition von Vorteil ist. Zumindest wenn man die Annahme zugrunde legt, dass ein anderer, neuer Präsident mit einer Schonfrist rechnen könnte, was zwangsläufig einen weiteren Aufschub der notwendigen gesamtgesellschaftlichen Transformation nach sich ziehen würde.
Unter dem Eindruck der Massenproteste reformiert der Kreml derzeit sein von ihm geschaffenes System. Zwei Zugeständnisse an die Protestierenden auf dem Bolotnaja Platz (von „boloto“ — „Sumpf“) in Moskau, der in Russland zum Symbol für bürgerliches Aufbegehren geworden ist, harren ihrer Umsetzung. Noch-Präsident Dmitrij Medwedjew stellte Korrekturen des Parteiengesetzes in Aussicht, außerdem diskutiert die Staatsduma über die Mechanismen für die Wiedereinführung von Wahlen für die regionalen Gouverneursposten. Doch ist bereits zum jetzigen Zeitpunkt absehbar, dass beide Maßnahmen kaum oder gar nicht vom Prinzip der Demokratieimitation abweichen, die zu einem Grundmerkmal der Putinschen Regierungsform zählt.
Zur Risikominimierung bei der Kandidatenauswahl für die Gouverneurswahlen schlug Medwedjew vor, diese vor dem Wahlgang per Unterschriftensammlung durch Abgeordnete der Lokalparlamente zu legitimieren. Angesichts deren parteilicher Zusammensetzung zugunsten der Kreml-Hauspartei „Einiges Russland“ und der geringen Anzahl vom lokalen Machtapparat unabhängiger Abgeordneter werden es oppositionell eingestellte Kandidatinnen und Kandidaten extrem schwer haben, bereits die Vorstufe zur Wahlzulassung zu meistern.
Bei der Reformierung des Parteiengesetzes schlugen die Machthaber genau den umgekehrten Weg ein. Anstatt der bislang vorausgesetzten 40 Tausend Mitglieder reichen von nun an gerade mal 500 Personen für eine Parteiengründung aus, was nicht schwer zu bewerkstelligen ist. So liegen dem Justizministerium bereits knapp 130 Anträge vor und es ist davon auszugehen, dass der Großteil davon grünes Licht erhält. Denn genau darin liegt die Strategie des Moskauer Machtzentrums begründet: je mehr kleine Parteien sich das Leben gegenseitig schwer machen, desto mehr profitiert davon das in die Kritik geratene „Einige Russland“. Dessen zu offensichtliche Präsenz mutierte in der jüngsten Vergangenheit gelegentlich sogar zum „Kassengift“. Insbesondere in den Regionen erweist sich die direkte Unterstützung durch die Apparatschiki der Kreml-Hauspartei immer öfter zum Verlustgeschäft.
So errang Anfang April in der Stadt Jaroslawl der unabhängige Bürgermeisterkandidat Eduard Urlaschow einen Sieg über seinen vom Staatsapparat favorisierten Gegner. Urlaschow war im vergangenen September aus dem „Einigen Russland“ ausgetreten und seine Kandidatur für das Bürgermeisteramt galt in den Augen des Gouverneurs des Gebiets Jaroslawl gar als „Sicherheitsrisiko“. Diese und andere Anschuldigungen konnten jedoch nicht über den Umstand hinweg täuschen, dass gerade in den russischen Regionen die Nachfrage nach unabhängigen Politikgrößen wächst. Im am Unterlauf der Wolga gelegenen Astrachan hingegen unterlag der Oppositionskandidat bei den Bürgermeisterwahlen, Oleg Schein, Anfang März seinem Gegner. Schein, der seit Anfang der 1990er Jahre als Gewerkschaftsaktivist und später als Dumaabgeordneter, zuletzt in den Reihen des „Gerechten Russland“, für die Astrachaner Bevölkerung ein fester Begriff ist und als Fürsprecher der sozialen Bewegungen gilt, fühlt sich um seinen Wahlsieg betrogen.
Tatsächlich verliefen die Bürgermeisterwahlen alles andere als gesetzeskonform. Schein verlangt nun eine Überprüfung der Ergebnisse, u.a. anhand der in allen Wahllokalen aufgestellten Webkameras. Deren Aufnahmen aber hielt die Wahlkommission wohlweislich zurück. Um seine Forderungen zu untermauern trat der Politiker gemeinsam mit einer Gruppe ihm Nahestehender am 16. März in einen unbefristeten Hungerstreik. Die Behörden ließ dies anfangs kalt. Seitdem jedoch am 10. April Verstärkung durch Oppositionelle aus Moskau eingetroffen ist, herrscht in Astrachans Führungsriege nervöse Stimmung. Die zentrale Wahlkommission in Moskau stellte am 25. Tag des Hungerstreiks zwar einen Teil der Videoaufnahmen zur Verfügung, beharrt aber weiter darauf, bei den Wahlen sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Der Hungerstreik gerät zusehends zum landesweiten Skandal und von dessen Ausgang wird womöglich mehr abhängen, als Sieg oder Niederlage einer lokalen Größe.
In der Hauptstadt beschränkt sich die Opposition derzeit auf symbolische Aktion mit weißen Bändern, die für einen gewaltfreien Protest für faire Wahlen stehen. Zwar stoßen auch diese gelegentlich auf Widerstand, wenn beispielsweise der Rote Platz plötzlich abgesperrt wird, um diesen nicht in Weiß erscheinen zu lassen, doch die Polizei bleibt im Regelfall gelassen. Ohnehin hat sich das Motto „für faire „Wahlen“ längst überholt. Regelmäßige Flashmobs halten die Massen vom „Bolotnaja“ bei Laune, sind aber ebenso wie der Hype um Facebook wenig dazu geeignet, eine wirkliche Umgestaltung von Unten einzuleiten.
Die eigentliche Errungenschaft der Massenproteste, nämlich die Politisierung eines Teils der politisch weitgehend passiven Bevölkerung, verschwindet zunehmend aus dem Blickfeld. Die lose Selbstorganisierung frischgebackener Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter nimmt neue Formen an und birgt die Chance, sich neuen Themen zuzuwenden. Doch damit dies passiert, braucht es zielgerichtete Debatten über eine neue, tiefgehende und radikale Tagesordnung der Protestbewegung. Ob die frisch entstandenen Parteienprojekte in der Linken und bei den Liberalen die Aufgabe einer inhaltlichen Weiterentwicklung der Proteste erfüllen kann, ist zumindest fraglich. Die zersplitterten Gruppen tun sich nicht nur bei der Formulierung gemeinsamer Interessen schwer, sondern konstruieren Realitäten aus dem Bauch heraus. Eine der unumstößlichen, von gutsituierten liberal-demokratischen Oppositionellen und den Medien gern kolportierten Mythen besteht in der Ansicht, es handele sich in Russland um einen Protest der Mittelklasse. Wer sich überhaupt die Mühe macht eine Definition zu präsentieren, fasst darunter sogar schlecht bezahlte schulische Lehrkräfte. Die Intention dahinter ist banal: den Wortführern und wenigen Wortführerinnen der Opposition geht es nicht um eine soziale Umgestaltung, sondern um ihre eigene Machtbeteiligung. Damit sind sie im Begriff die gleichen Fehler zu begehen, die das Ende der Perestroika besiegelt hatten.
In den Regionen, insbesondere den großen Industriezentren, mit deren Zuspruch das autoritäre Putin-System seine Legitimität erhält, ist die Angst vor einer ökonomischen Verschlechterung durch etwaige Reformen viel gegenwärtiger als in den trotz zunehmender Präkarisierung der Arbeitsverhältnisse vergleichsweise gut gestellten Metropolen. Ohne eine klar sozial ausgerichtete Programmatik ist eine demokratische Umgestaltung Russlands nicht zu haben. Und es geht nicht ohne Einbeziehung der Regionen und deren spezifische Abhängigkeitsverhältnisse in die Überlegungen, wie über kurz oder lang ein neues Gesellschaftsmodell entstehen kann, das dem gegenwärtigen Machtgefüge die Stirn bieten kann.
Ute Weinmann
ak Nr. 571 20.4.2012