Im südrussischen Astrachan gab es bei der Bürgermeisterwahl Unregelmäßigkeiten. Dem unterlegenen linken Kandidaten gelang es, durch einen Hungerstreik darauf aufmerksam zu machen.
Während Moskauer Oppositionelle für den 6. Mai, einen Tag vor der geplanten Amtseinführung Wladimir Putins als Präsidenten, zu einem ambitionierten »Marsch der Millionen« aufrufen, steht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses im Moment ausnahmsweise nicht die Hauptstadt, sondern der südliche Rand Russlands. Genauer gesagt Astrachan an der unteren Wolga, wo ein paar Dutzend Aktivistinnen und Aktivisten gegen die vorherrschende Überzeugung unter Beweis stellen, dass entschlossener Widerstand Weniger gegen Wahlmanipulation Erfolg haben kann.
Am 4. März, gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen, fanden in Astrachanvorgezogene Neuwahlen für das Bürgermeisteramt statt. Sergej Bozhenow, der das Amt zuvor fast acht Jahre lang innehatte, war zum Gouverneur des benachbarten Wolgograder Gebiets befördert worden. Bozhenow stand für eine durch und durch korrupte lokale Machtordnung, und als Besitzer zahlreicher Immobilien in der Stadt genießen er und seine Familie einen zweifelhaften Ruf. Denn für seine Bauvorhaben mussten etliche renovierungsbedürftige Wohnhäuser weichen, in einigen Fällen einschließlich ihrer Bewohnerinnen und Bewohner – durch Brandstiftung.
Die Wahl gewann mit 60 Prozent der Stimmen Michail Stoljarow von der Regierungspartei »Einiges Russland«. Wie sein Vorgänger wird er mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Präsidialverwaltung, Wjatscheslaw Wolodin, in Verbindung gebracht. Stoljarows Herausforderer Oleg Schein unterlag mit knapp 30 Prozent der Stimmen. Doch der 40jährige Schein, für den dies bereits die zweite Niederlage bei Bürgermeisterwahlen war, weigerte sich wegen zahlreicher Verstöße bei der Stimmauszählung, die Wahlergebnisse anzuerkennen. Seine Forderung nach Neuwahlen wurde allerdings ignoriert, eine Klage vor Gericht hätte wohl kaum zu Klärung geführt. Bereits 2009 hatte er das damalige Wahlergebnis vor Gericht angefochten – vergeblich. Dieses Mal wollte er nur die Aufzeichnungen von Webkameras vorlegen, die in allen Wahllokalen aufgestellt worden waren, und rechnete sich so eine Chance auf Erfolg aus. Doch die Wahlkommission weigerte sich, diese Aufzeichnungen herauszugeben. Am 16. März trat Schein schließlich in einen unbefristeten Hungerstreik.
Anfangs nahmen nicht einmal die lokalen Medien von dem Ereignis Kenntnis,geschweige denn die zentrale Wahlkommission. Des Hungerstreiks bedienen sich in Russland viele verzweifelte Bürgerinnen und Bürger, die sich anders nicht zu helfen wissen, meist bleiben sie damit erfolglos. Denn niemand will sein Leben riskieren. Anders Oleg Schein. Der überzeugte Linke hatte sich in Astrachan bereits in den neunziger Jahren als Gewerkschafter und Unterstützer der lokalen sozialen Bewegungen einen Namen gemacht. 1999 gelang es ihm sogar, ein Direktmandat für die Staatsduma zu erlangen. Später landete er in der Partei »Gerechtes Russland«. Zwar gehört Schein der Duma nicht mehr an, aber von seiner Partei erhält er tatkräftige Unterstützung. Fast die gesamte Fraktion reiste Mitte April nach Astrachan, auch bekannte Oppositionelle wie der Antikorruptionsblogger Aleksej Nawalnyj. Die Politprominenz gab den Ausschlag dafür, dass sich der Hungerstreik, an dem sich zeitweise weitere Personen aus Scheins Umfeld beteiligten, nach Wochen zum landesweiten Skandal ausweitete.
Von Neuwahlen ist Astrachan zwar noch weit entfernt, aber die zentrale Wahlkommission gab die geforderten Videoaufnahmen doch noch heraus und deren Vorsitzender Wladimir Tschurow räumte Verstöße in knapp zwei Dritteln der Wahllokale ein. Auch hat Schein inzwischen eine Klage vor Gericht eingereicht. Immer wieder betont er, es gehe ihm keinesfalls darum, sich den Wahlsieg zu sichern. Vielmehr will er erreichen, dass der Bevölkerung das Recht zugestanden werde, selbst über ihre lokale politische Vertretung zu bestimmen, anstatt sich dem Moskauer Diktat zu unterwerfen. Aus Protest gegen Festnahmen nach einer Kundgebung am Wochenende traten weitere 40 Personen in einen Hungerstreik. Am Montag wurden Geldstrafen statt Ordnungsgewahrsam verordnet und Schein erklärte den Hungerstreik nach 38 Tagen für beendet.
Ute Weinmann