Die regierungskritische Bewegung «Occupy Abai» erhielt in Moskau breite Unterstützung aus der Bevölkerung. Inzwischen geht es um viel mehr als freie Wahlen.
Mit Halbwahrheiten zu leben, lernt man in Russland von Kindesbeinen an. Im Land herrscht weder eine Demokratie noch eine Diktatur. Zwar gibt es ordentliche Gerichte, doch deren Urteile beruhen nicht selten auf einer fragwürdigen Beweislage. Und wenn die Opposition zum «Marsch der Millionen» aufruft, erscheinen gerade mal einige Zehntausend Menschen. Aber vielleicht werden es künftig mehr sein. An den seit Monaten andauernden Protesten beteiligen sich immer breitere Bevölkerungsschichten.
Die Massenkundgebungen für faire Wahlen im vergangenen Winter sorgten nicht nur im Kreml für eine Überraschung, sondern vor allem bei den TeilnehmerInnen selbst. Diese begannen sich selbst als politische Subjekte zu erkennen. Und dieser Prozess ist noch längst nicht zu Ende. Im Lauf der Zeit werden Veränderungen sichtbar. Bei den Kundgebungen im Winter hatten kreative und humoristische Losungen der Protestierenden dominiert. Als Wladimir Putin Anfang März als Präsident wiedergewählt wurde, schlug die Stimmung jedoch blitzschnell um.
Zum einen veränderte sich die Zusammensetzung der DemonstrantInnen. «Mit der Zeit kamen immer mehr RentnerInnen, ArbeiterInnen und Arbeitslose hinzu», sagt Alexandrina Vanke der WOZ. Sie ist Soziologin an der Russischen Akademie der Wissenschaften und hat seit Beginn der Protestwelle mit ihrem Team mehrere Hundert Interviews geführt. Die Befragten sehen sich nicht als Teil einer Mittelklasse. Zum anderen änderten sich die Inhalte. «Immer häufiger werden soziale Forderungen geäussert», sagt Vanke. «Das lässt sich durch die Reformen im Bildungs- und Gesundheitssektor erklären; diese Sektoren werden auf eine kommerzielle Basis gestellt. Es liegt aber auch an der stärkeren Präsenz ärmerer Bevölkerungsschichten.»
Ein Experimentierfeld
Ein Rezept für die Umsetzung der geforderten politischen Veränderungen haben weder die selbsternannten Oppositionsführer parat, deren Rückhalt im regierungskritischen Spektrum gerne überschätzt wird, noch die Protestierenden, deren politische Unbedarftheit mangels praktischer Erfahrungen gelegentlich an Naivität grenzt. Weit über dieses Umfeld hinaus zeichnet sich in der konservativen russischen Gesellschaft immer deutlicher der Wunsch nach Veränderungen ohne Auseinandersetzungen ab. Der brutale Polizeieinsatz beim «Marsch der Millionen» am 6. Mai, zu dem viele TeilnehmerInnen aus verschiedenen Regionen nach Moskau gereist waren, setzte dieser Illusion keineswegs ein Ende. Im Gegenteil – er führte bei vielen frischgebackenen AktivistInnen dazu, noch entschlossener vorzugehen und weiter zu protestieren.
Die Besetzung eines Platzes im Moskauer Zentrum vor wenigen Wochen, am Fuss des Denkmals für den kasachischen Dichter Abai Qunanbajuly, war da eine logische Fortsetzung. «Occupy Abai» ist mit seiner bunten Mischung aus allen Bevölkerungsteilen zu einem Experimentierfeld für direkte Demokratie geworden. Kernpunkt der oppositionellen Forderungen blieb auch hier die Absetzung von Wladimir Putin. Darüber hinaus stand der Ruf nach Parlamentsneuwahlen und einer generellen Reform des politischen Systems ganz oben auf der Tagesordnung. In der Praxis waren jedoch vor allem Fragen der Selbstorganisation und die Konsolidierung als längerfristig agierende Bewegung zentral. So waren es politisch erfahrene Kader, überwiegend aus dem linken Spektrum, die einen Grossteil der Vorlesungen und Workshops zu Themen wie Selbstverwaltung, zivilem Ungehorsam, Feminismus oder Bildungsreform initiierten, wie auch die allabendliche Vollversammlung.
Der nächste Marsch
Viele Menschen, besonders AnwohnerInnen, brachten dem Protestlager Sympathien entgegen. Im Camp herrschte nicht nur ein strenges Alkoholverbot, sondern es war alles untersagt, was von den Behörden als Provokation oder politische Veranstaltung gedeutet werden könnte. In den staatlichen Medien erfolgte gleichzeitig eine Diskreditierungskampagne. Nach einer Woche wurde das Camp schliesslich geräumt. Dennoch existiert «Occupy Abai» in reduzierter Form an wechselnden Orten weiter.
Am 12. Juni steht ein weiterer «Marsch der Millionen» an. Im Kreml fürchtet man laut anonymen Quellen aus der Präsidialverwaltung nichts mehr, als dass sich die Proteste ausweiten und auch soziale Forderungen gestellt werden.
Ute Weinmann