«Eine reale Bedrohung»

Einer Ende Juni vorgelegten Gesetzesvorlage der Regierungspartei Einiges Russland zufolge sollen NGOs, die ausländische Fördermittel erhalten, im Falle politischer Betä­tigung gesonderten Regeln unterworfen werden. Unter anderem sollen sie gezwungen werden, sich bei jedem öffentlichen Auftreten als »ausländischer Agent« auszuweisen. Die Jungle World sprach mit Pawel Tschikow über die Folgen für russische NGOs. Er ist Jurist und Vorsitzender des Menschenrechtsvereins Agora in Kazan.

Passt auf Sie der Begriff »ausländischer Agent«?

Wir werden abwarten, wie der Gesetzgeber diesen Begriff definiert. Wenn das Gesetz in der bislang vorliegenden Form in Kraft tritt, werden wir noch am selben Tag eine Anfrage an das Justizministerium stellen, das die Kontrollaufsicht über nichtkommerzielle Organisationen ausübt, ob Agora unter die Definition »ausländischer Agent« fällt. Wenn wir nicht darunter fallen, werden wir ein Dokument in der Hand haben, das wir den Staatsorganen bei Bedarf vorlegen können.

In dem Gesetzestext ist von »politischer Tätigkeit« die Rede. Was darunter verstanden wird, bleibt jedoch unklar.

Das stimmt so nicht. In dem Gesetz heißt es, dass eine nichtkommerzielle Organisation dann eine politische Tätigkeit ausübt, wenn sie sich unabhängig von den in der Vereinssatzung festgelegten Aufgaben und Zielen an der Organisation und Durchführung politischer Aktionen beteiligt, in der Absicht, auf die Entscheidungsfindung staatlicher Behörden einzuwirken, um eine Veränderung der staatlichen Politik herbeizuführen und auf die Bildung der öffentlichen Meinung Einfluss zu nehmen. Hier werden allerdings drei Begriffe eingeführt, die dem russischen Rechtssystem bislang unbekannt waren, nämlich poli­tische Aktionen, staatliche Politik und Bildung der öffentlichen Meinung. Dazu steht im Gesetz nichts weiter.

Wie sehr wird das Gesetz die Tätigkeit von Agora beeinträchtigen? Rechnen Sie mit einer willkürlichen Anwendung?

Es wird uns nicht sehr tangieren, wenn wir die vorgesehen formalen Auflagen erfüllen. Bei jeder Publikation muss auf den Status »ausländischer Agent« hingewiesen werden, außerdem erhöht sich der bürokratische Aufwand. Von Willkür würde ich nicht sprechen, aber das Gesetz lässt natürlich viel Deutungsspielraum. Insbesondere die vorgesehenen Ordnungsstrafen bis zu knapp 25 000 Euro stellen für jeden Verein, auch die finanziell bessergestellten, eine reale Bedrohung dar. Auch für uns.

Gegen wen richtet sich das Gesetz in erster Linie? Und warum wurde es ausgerechnet jetzt eingebracht?

Faktisch richtet das Gesetz sich gegen die gesamte russische Zivilgesellschaft, insbesondere natürlich gegen den nichtkommerziellen Sektor. Ich kann nur mutmaßen, dass der Staat damit die in seinen Augen feindselige Tätigkeit ausländischer Geldgeber einschränken will. Es erinnert an die Gesetzgebung in Weißrussland und symbolisiert die Macht von Wladimir Putin. Gerechnet haben wir damit bereits seit Beginn des Jahres im Zuge der aufkeimenden Protestbewegung.

Einige Menschenrechtsorganisationen wie die Moskauer Helsinki-Gruppe haben bereits mitgeteilt, dass sie lieber auf ausländische Fördermittel verzichten werden. Welche Maßnahmen halten Sie für sinnvoll?

Wir können den Verzicht auf ausländische Fördermittel nicht riskieren. Da Agora im juristischen Bereich arbeitet, richten wir uns an den rechtlichen Möglichkeiten aus und werden versuchen, die negativen Folgen für NGOs zu minimieren. Wir werden Gerichtsprozesse führen und versuchen, vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Außerdem haben wir eine Erklärung an die Duma mitinitiiert, die bereits von über 2 000 Organisationen und Einzelpersonen unterzeichnet wurde. Das Gesetzesprojekt widerspricht unserer Verfassung und führt unweigerlich zur Diskriminierung nichtkommerzieller Vereine und muss deshalb geändert werden.

Die liberale Opposition, darunter die Bewegung Solidarnost, spricht sich für Einreiseverbote in die EU und die USA für Angehörige des russischen Staatsapparates aus. Müssten nicht eher deren ausländische Bankkonten eingefroren werden?

Meine persönliche Meinung ist, dass Maßnahmen wie Einreiseverbote ihren Adressaten erreichen, angesichts der drohenden internationalen Isolation. Es macht Sinn, in diese Richtung weiterzudenken. Aber es mag noch effektiver sein, Bankkonten anzutasten.

Könnte man in der Debatte über das Gesetz nicht auch eine deutliche Kennzeichnung ausländischer Finanzbeteiligung bei staatlichen Behörden und Unternehmen fordern? Schließlich beläuft sich der Umfang von Finanzhilfen aus dem Westen an den russischen Staat auf eine weitaus größere Summe als die relativ geringen Mittel für NGOs.

Lassen Sie uns realistisch bleiben, eine Erfüllung derartiger Forderungen ist undenkbar. Natürlich kann man solche Argumente vorbringen, aber wir sollten uns im Weiteren auf die Angriffe auf den nichtstaatlichen Sektor konzentrieren, dem der Staat mit diesem Gesetz den Kampf angesagt hat.

Interview: Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2012/28/45851.html

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