In Moskau protestierten Tausende gegen die politischen Prozesse, die wegen einer oppositionellen Kundgebung im Mai stattfinden.
Strafverfahren sind in Russland eine sumpfige Angelegenheit, insbesondere wenn es sich um offensichtlich politisch motivierte handelt. Die jüngste »Sumpf-Affäre« erhielt ihre Bezeichnung zwar wegen des gleichnamigen Handlungsortes, des Bolotnaja-Platzes im Moskauer Stadtzentrum, doch auch der bisherige Verlauf der Ermittlungen macht dem Namen alle Ehre. Wer einmal in den Sog des Strafverfolgungsapparates geraten ist, versinkt darin immer tiefer und zieht schlimmstenfalls noch andere mit.
2 500 Menschen forderten am Abend des 26. Juli in Moskau die Einstellung der Verfahren, die wegen Beteiligung an Massenunruhen und wegen gewalttätigen Widerstands gegen Polizisten beim oppositionellen »Marsch der Millionen« am 6. Mai sowie wegen Aufrufs dazu derzeit anhängig sind. Den Betroffenen drohen nach der Strafgesetzgebung bis zu acht Jahre Haft. Auch in zahlreichen anderen russischen Städten und im Ausland fanden Solidaritätskundgebungen statt. Dass nach offiziellen Angaben der Polizei in Moskau nur einige hundert Menschen den Aufrufen der Veranstalter gefolgt waren und die Versammlung somit für die Öffentlichkeit als unbedeutend eingestuft wurde, hat zumindest einen Vorteil: Die städtischen Behörden hatten für den 26. Juli als Obergrenze lediglich 1 500 Teilnehmende genehmigt, bei Überschreitung der vorgegebenen Anzahl müssen die Anmelder einer Kundgebung nach dem jüngst verschärften Versammlungsgesetz mit einer hohen Geldstrafe rechnen.
Überdies werden hohe Anwaltskosten die knappen finanziellen Ressourcen strapazieren. Am Morgen der Kundgebung erfolgten die vorläufig letzten Festnahmen, mit neuen Strafverfahren ist zu rechnen. Dabei lässt sich das Durchbrechen einer Polizeikette durch Demonstrierende am 6. Mai schwerlich unter den Begriff Massenunruhen fassen. Zu diesem Schluss jedenfalls gelangten zahlreiche Rechtsexperten und Menschenrechtsorganisationen; weder wurden an diesem Tag Brandsätze gezündet noch gab es Sachbeschädigungen, und auch Steinwürfe fallen wohl kaum unter »bewaffneten Widerstand«, wie es im entsprechenden Paragraphen des russischen Strafrechts heißt.
Ob ein Straftatbestand vorliegt oder nicht, spielt in dem Fall jedoch keine Rolle.Am deutlichsten wird dies am Beispiel von Oleg Archipenkow. Der vormalige Verkaufsleiter eines Reisebüros soll sich an den Protesten auf dem Bolotnaja-Platz beteiligt und nach der Aussage eines Polizisten diesen mit Steinen beworfen haben. Dabei existiert ein Polizeiprotokoll, das belegt, dass Archipenkow im Zuge der Massenfestnahmen am 6. Mai in einem anderen Teil der Stadt kurzzeitig in Polizeigewahrsam geriet, er sich folglich an jenem Nachmittag gar nicht auf dem Bolotnaja-Platz aufgehalten haben kann. Mit Politik will der Endzwanziger nichts zu tun haben. Er sitzt in Untersuchungshaft und leidet unter Panikattacken, Herzrasen und Schlaflosigkeit, allerdings versagt ihm die Gefängnisleitung die nötige medizinische Versorgung.
Verdacht und Anklage fußen in erster Linie auf dem Erinnerungsvermögen und der Staatsloyalität von Polizeiangehörigen. So will einer von ihnen deutlich vernommen haben, wie Artjom Sawjolow, dessen heftiges Stottern ihn daran hindert, auch nur einen kurzen Satz zu Ende zu sprechen, wiederholt »Nieder mit dem Polizeistaat« gerufen haben soll. Den Anarchisten Stepan Zimin, dessen Gesicht mit einer Maske bedeckt war, hat ein Polizist erst einen Monat nach seiner ersten, anderslautenden Aussage als vermeintlichen Angreifer ausgemacht. Und eine Videoaufnahme von der 18jährigen Aleksandra Duchanina zeigt lediglich, wie sie unbeholfen ein Stück Asphalt in Richtung der Polizeikette wirft. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet ihr Wurf für die später in den Medien verbreiteten Bilder blutüberströmter Mitglieder der Omon-Sonderpolizei verantwortlich gewesen sein soll. Die verletzten Polizisten belohnte der Moskauer Bürgermeister für ihren Einsatz mit Wohnungen in der Hauptstadt. Opfer von Polizeigewalt bei den brutalen Festnahmen wollen die Behörden trotz zahlreicher Dokumentationen nicht bemerkt haben.
In dem genannten Verfahren befinden sich derzeit 13 Männer in Untersuchungshaft, zwei Frauen und ein weiterer Mann stehen unter Hausarrest oder dürfen Moskau nicht verlassen. Unter ihnen finden sich alle möglichen Berufsgruppen, linke Aktivisten, ein Neonazi und Unpolitische. Offenbar will der Staat mit der »Sumpf-Affäre« ein Exempel statuieren – als Warnung an die allzu aufmüpfige Opposition. Für den Herbst werden erneute Massenproteste gegen die russische Regierung erwartet. Die Prozesse sollen signalisieren, dass eine Teilnahme an Protesten mit dem Risiko einer langjährigen Haftstrafe verbunden ist. Den bisherigen Vernehmungen nach zu urteilen suchen die Ermittler aber auch nach Beweismitteln gegen einige als Führungsfiguren geltende Oppositionelle. Einer davon, Ilja Jaschin von der Bewegung Solidarnost, distanzierte sich bereits im Mai sehr deutlich von jenen, die sich an den Rangeleien mit der Polizei beteiligt hatten. Nach seiner Version hatten Provokateure die friedliche Blockade gestört und die Polizeikette mit Gewalt durchbrochen. Diese Form der Entsolidarisierung und die auffällige Ignoranz gegenüber den laufenden Strafverfahren führten bei den Angehörigen der Angeklagten bereits zu heftiger Kritik an der Opposition und dürften der in der Bevölkerung verbreiteten Angst vor Konsequenzen der Beteiligung an Protesten kaum entgegenwirken.
Gerade jetzt sei verstärkte Solidarität nötig, meint hingegen Aleksej Sachnin von der Linksfront, die selbst von den Polizeimaßnahmen betroffen ist. Wegen einer Reihe unpopulärer Maßnahmen wie der Kommerzialisierung des Bildungs- und Gesundheitswesens richte sich die Regierung auf eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung ein und werde auf Proteste entsprechend hart reagieren. Gleichzeitig offenbarten jüngste Umfragen des Lewada-Zentrums, dass Gesetze wie jenes, das die Mitarbeiter russischer Nichtregierungsorganisationen, die Gelder aus nichtrussischen Quellen erhalten, als »ausländische Agenten« stigmatisiert, durchaus auf Zustimmung stoßen.
Ute Weinmann