Auch wenn ein baldiger Umbruch unwahrscheinlich bleibt: Russlands politische Stabilität ist ins Wanken geraten.
German Gref, Chef der russischen Sberbank und ehemaliger Wirtschaftsminister, hatte im Juni auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg auf den Punkt gebracht, was die Haltung einer ganzen Generation von PolitikerInnen, BeamtInnen und TopmanagerInnen in Russland prägt. Ihm sei »angst und bange« bei dem Vorschlag, ,»die Macht in die Hand der Bevölkerung zu legen«. Schließlich hätten die vergangenen Jahrtausende gezeigt, dass eine Lösung des Problems nicht in Sicht sei.
Nun geht es bei der bislang in oppositionellen Kreisen geführten Debatte weniger um die Frage nach einer direkten Machtbeteiligung breiter Bevölkerungskreise als vielmehr um die nach Mechanismen für eine glaubwürdige politische Vertretung. Eine solche muss allerdings erst gefunden werden. Das Konzept der liberalen Opposition konzentriert sich voll und ganz auf die Schaffung eines neuen Typus — des »ehrlichen Politikers« im Unterschied zu den »Gaunern und Dieben« der Kremlpartei Einiges Russland. Politische Programmatik spielt eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht die Herstellung einer Vertrauensbasis zwischen den virtuell präsenten Gesichtern führender Oppositioneller und der Masse im vergangenen Winter aktiv gewordener BürgerInnen. Wer hingegen als Interessenvertretung für wirtschaftlich und geografisch ausgegrenzte Bevölkerungsschichten in den entfernt gelegenen und auf Subventionen aus dem föderalen Budget angewiesenen Regionen in Frage kommt, beschäftigt lediglich eine geringe Anzahl linker AktivistInnen.
Aufgrund vorhandener medialer Ressourcen wie eigener Presse, Hörfunk und Internetfernsehen dominiert in der Opposition der Blick liberaler Kreise. Deren weitverbreitete unreflektierte Grundannahme, marktwirtschaftliche Freiheiten, wenn es sie denn in Russland gäbe, würden schon alles richten, drängt VertreterInnen alternativer Politikansätze in eine Randstellung. Nach wie vor gilt die Anhängerschaft von Wladimir Putin in den großen Industriezentren und abgelegenen Regionen als komplett unverbesserlich. Forderungen nach sozialer Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums — und seien es nur Renten oder Löhne, die sich an den realen Lebenshaltungskosten ausrichten — haftet Sowjetnostalgie an. In Abgrenzung zur pauperisierten und rückwärtsgewandten Wählerklientel des Kremls sieht sich die Opposition als gebildet, fortschrittlich und intelligent.
Die Massen sind unvernünftig
In der Praxis lässt sich ein solches vereinfachtes Abgrenzungsmodell in dieser Schärfe nicht belegen. Noch bezeichnender ist allerdings, dass nicht die Überwindung vermeintlicher und tatsächlicher Gegensätze auf der Tagesordnung steht, sondern deren Festschreibung. Wer sich zu den gebildeten Oppositionskreisen zählt, darf sich also privilegiert fühlen und kann zu Recht auf eine aktivere Rolle als StaatsbürgerIn pochen. Ein allgemeingültiger Anspruch auf politische Mitbestimmung erwächst daraus jedoch nicht. Diese Ansicht vertrat in St. Petersburg auch die ehemalige Wirtschaftsministerin Elvira Nabiullina, indem sie German Grefs Ängste abmilderte: Die Massen seien unvernünftig, eine vernunftgeleitete Gesellschaft hingegen könne durchaus mehr direkte Verantwortung auf sich nehmen.
So weit hergeholt Fantasien über einen baldigen Umbruch im russischen Machtgefüge — wie ihn viele im oppositionellen Lager gerne herbeireden — auch sein mögen: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Protestbewegung zumindest eine Verunsicherung des Establishments gelungen ist. Die politische Stabilität ist ins Wanken geraten. Und wenngleich Wladimir Putin bemüht ist, den Status Quo von vor 2008 wiederherzustellen, also die Zeit vor der Präsidentschaft von Dmitrij Medwedjew und der einschneidenden Wirtschaftskrise, so scheint es ihm äußerlich betrachtet zwar von der Hand zu gehen. Sehr souverän wirken seine Maßnahmen jedoch nicht und bergen zudem Konfliktstoff: Zunehmende Repressalien gegen politisch aktive oder potenziell aktive Menschen und auf verschärfte Kontrolle ausgerichtete Gesetzesinitiativen lassen den Spielraum für oppositionelles Engagement immer enger werden. Die Gründe für den Prostet beseitigen sie nicht.
Innerhalb der politischen Eliten gibt es Spannungen
Wladimir Putin hat seit seinem erneuten Amtsantritt als Präsident im vergangenen Mai eine ganze Reihe von Entscheidungen seines Vorgängers Medwedjew revidiert und dessen Modernisierungskonzept auf den Kopf gestellt. Einen Monat vor seinem 60. Geburtstag ließ Putin als bislang zentrales Element seiner dritten Amtsperiode das Pensionsalter für Staatsbedienstete auf 70 Jahre erhöhen. Medwedjew hatte es auf 60 Jahre abgesenkt. Putin erfülle damit die traditionelle Funktion eines russischen Staatsoberhauptes, kommentierte die Moskauer Soziologin und Elitenforscherin Olga Kryschtanowskaja in der Novaya Gazeta. Der Präsident gilt als Garant für die Unantastbarkeit der größtenteils aus konservativen Bürokraten bestehenden politischen Klasse. Und ein großer Teil deren Angehöriger gehört Putins Altersgruppe an. Jüngere Kader, die in den vergangenen vier Jahren auf Initiative von Medwedjew nachgerückt waren und in den regionalen Machtstrukturen eine durchschnittliche Alterssenkung von 14 Jahren herbeigeführt haben, geraten damit eindeutig ins Hintertreffen. Spannungen innerhalb der politischen Eliten bleiben da nicht aus.
Kryschtanowskaja, die seit Sommer ihre Mitgliedschaft in der Kremlpartei Einiges Russland ruhen lässt, spricht angesichts dieser Entwicklungen vom Heranreifen einer »revolutionären Situation«. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung lässt sich auf Dauer kaum mit klassischen polizeistaatlichen Methoden eindämmen, die sogar einer Radikalisierung der Proteste Vorschub leisten könnten. Ein zufälliger Auslöser mag ausreichen, um die Putinsche Machtordnung zum Einsturz zu bringen: Todesopfer bei Massenprotesten, religiöse Provokationen, interethnische Schlägereien oder aber ein Verfall der Rohstoffpreise. Als entscheidenden Faktor für ein revolutionäres Szenario benennt die Soziologin eine mögliche Allianz zwischen den ihrer Ämter verlustig gegangenen Anhängern Medwedjews und der Oppositionsbewegung — vorausgesetzt, diese weitet sich auf ärmere Bevölkerungsschichten aus.
Das russische Finanzministerium sorgt derweilen für eine Ausweitung des Protestpotenzials. In seiner Planung für die kommenden zwei Jahre sind Ausgabenerhöhungen für den Verteidigungshaushalt vorgesehen. Kultur, Bildung und das Gesundheitswesen müssen hingegen mit einschneidenden Kürzungen rechnen. Aus dem in die Duma eingereichten Gesetzesprojekt über die Bildungsreform verschwand kurzerhand die Festschreibung erheblicher Gehaltserhöhungen für völlig unterbezahlte Lehrkräfte an Schulen. Am 1. September, dem ersten Tag des neuen Schuljahres verkündete Putin, im Allgemeinen gestalte sich die Lage um die Gehälter für Lehrkräfte nicht schlecht, räumte aber auch Probleme ein. Tatsächlich waren die Gehälter in den vergangenen Monaten angestiegen, allerdings zu weiten Teilen aufgrund von Mehrarbeit.
Staatliche Ausgabenkürzungen für Bildung gehen einher mit einer Kommerzialisierung, von der nicht nur Universitäten und außerschulische Bildung betroffen sind, sondern auch allgemeinbildende Schulen. Das neue Gesetz sieht zudem die Streichung von Vergünstigungen für Lehrkräfte in ländlichen Regionen vor und erleichtert die Schließung »unrentabler« Schulen. Andrej Demidow, einer der Vorsitzenden der unabhängigen Lehrergewerkschaft, rechnet damit, dass spätestens mit Inkrafttreten des Gesetzes Ende dieses oder Anfang kommenden Jahres mit Protestaktionen und Ausständen von Schullehrkräften zu rechnen ist. Zu Arbeitsniederlegungen kommt es im Übrigen in Russland nicht selten: Allein im ersten Halbjahr 2012 zählte das Zentrum für soziale und Arbeitsrechte 146 am Arbeitsort ausgetragene Konflikte. Sie werden jedoch von der Oppositionsbewegung kaum wahrgenommen.
Die Einigkeit der Opposition ist zugleich deren Schwäche
Für die Protestbewegung ist es an der Zeit, konkrete Ziele nicht nur zu benennen, sondern auch zu erreichen. Die vergangenen neun Monate seit den Parlamentswahlen, die den Beginn der großen Protestwelle eingeläutet hatten, brachten keinerlei konkrete Resultate. Sowohl die Ergebnisse der Parlaments- als auch der Präsidentschaftswahlen haben weiterhin Bestand. Andere auf bestimmte Maßnahmen der Regierung ausgerichtete Zielscheiben der Protestbewegung machen sich eher am Rande bemerkbar. Konsens war bislang, sich nicht an Teilfragen abzuarbeiten, sondern sich auf die Machtzentrale im Kreml zu konzentrieren. Wladimir Putin und seine Adepten als eindeutig auszumachende gemeinsame Gegner schweißen die aus völlig unterschiedlichen Zusammenhängen stammenden Oppositionsgruppen zusammen. Die Einigkeit der Opposition in dieser Frage ist jedoch zugleich deren Schwäche.
Wo der kollektive Protest keine sichtbaren Ergebnisse zutage bringt, besteht die Gefahr, sich wie zu Zeiten des sowjetischen Dissidententums auf individualisierte Formen der Meinungsäußerung zurückzubesinnen. Wo die äußere Freiheit so sehr eingeschränkt ist, steht immer noch der Weg in die innere Freiheit offen. Eine fatale Entwicklung. Beispielhaft dafür stehen die Worte von Nadja Tolokonnikowa bei dem Gerichtsprozess gegen sie und zwei weitere Angehörige von Pussy Riot: »Wir sind freier als jene, die uns gegenüber auf der Anklageseite sitzen, da wird alles sagen können, was wir wollen.«
Den Westen hat der groteske Prozess gegen die drei Punk-Aktionskünstlerinnen ein wenig aufgerüttelt. Wo Russland bislang rein optisch als rückständig mit Männern in grauen Anzügen und Frauen in Miniröcken und Stöckelschuhen assoziiert wurde, tauchten plötzlich hippe Ikonen des Widerstands auf. Für den Westen wohlgemerkt. In Russland selber hat der Prozess zwar auch für Solidaritätsbekundungen mit den drei Frauen gesorgt, aber keinesfalls eine längst überfällige Debatte über politischen Aktionismus, legitime Protestformen und Tabubrüche unter den Bedingungen eines per Gesetz extrem eingeschränkten Aktionsraumes in Gang gebracht. Stattdessen gehört es auch in putinkritischen Kreisen zum guten Ton, sich von dem »Punk-Gebet« zu distanzieren.
Die über Wochen andauernde Empörung im Westen über den Umgang mit Pussy Riot dürfte für die russischen Machthaber überraschend gewesen sein. Angst vor einem Imageverlust treibt die Kremlherren jedoch nicht um. Anders sähe es aus, würden im Westen Aufrufe zum Boykott der Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 laut. Allerdings wäre allein ein Auftritt von Sportlerinnen und Sportlern in bunten Strickmasken eine Teilnahme wert.
Ute Weinmann