Zum oppositionellen »Marsch der Millionen« in Moskau kamen etwa 30000 Menschen. Die heterogene Opposition gegen Wladimir Putin tut sich schwer bei der Entwicklung politischer Perspektiven.
Die Enttäuschung nach dem mittlerweile dritten »Marsch der Millionen« am 15. September in Moskau war groß. Dabei hat sich nur vollzogen, was bereits in den vergangenen Monaten absehbar war: ein leichter Rückgang der Teilnehmerzahlen, Routine nach der anfänglichen Euphorie und eine deutliche Hinwendung zu sozialen Inhalten. Das allein reichte aus, um die Großveranstaltung für gescheitert zu erklären. Immerhin etwa 30 000 Menschen nahmen daran teil, angesichts der ohnehin überzogenen Angaben bei früheren Demonstrationen kommt das keineswegs einer Katastrophe gleich. Stein des Anstoßes war jedoch der scheinbare oder tatsächliche Rückzug der von der liberalen Presse gehätschelten sogenannten kreativen Klasse, des imaginären Repräsentanten eines neuen, besseren Russland.
Nett anzuschauen, mit guter Atmosphäre und fröhlich sollen die Proteste sein. Doch ein Kommentator der Tageszeitung Novaya Gazeta beklagte, dass der Anteil gut gelaunter Städter, die sich gegenseitig fotografieren und hinterher die Ergebnisse ihres kreativen Schaffens auf Facebook mit einem »like«-Zeichen honorieren, zugunsten ideologisierter Gruppen gesunken sei. Schuld an dieser Entwicklung sind seiner Ansicht nach die Linken. Mit seinem Plädoyer für bloße Selbstbeschau als Demokratisierungskonzept steht der Publizist nicht alleine da. Seine Kollegin Julia Latynina, die über Russland hinaus bekannt ist für ihre Polemiken gegen Präsident Wladimir Putin, aber auch für ihre fast schon obsessiv zu nennende Ablehnung eines sozialen Gleichheitsanspruchs, rät dazu, Demonstrationen gar nicht mehr durchzuführen, da bei einer sinkenden Beteiligung automatisch der Anteil an Linken und Nazis steige. Dass die liberale Opposition bereits zur ersten Großkundgebung noch im Dezember 2011 mit Ilja Lazarenko von der Nationaldemokratischen Allianz einen bekannten Vertreter der extremen Rechten auf die Tribüne holte, scheint bereits in Vergessenheit geraten zu sein.
Ein wenig mehr Verständnis für historische Prozesse könnte der Protestbewegung jedenfalls nicht schaden. Damit in Russland 1905 mit der Duma erstmals eine parlamentarische Vertretung geschaffen wurde, bedurfte es einer Revolution, bunte Plakate allein hätten sicherlich nicht ausgereicht. Davon gab es auf dem »Marsch der Millionen« jedenfalls mehr als genug. Am auffälligsten war jedoch der »Bildungsblock«, ein breiter Zusammenschluss von universitären und schulischen Lehrkräften und wissenschaftlichen Mitarbeitern. Deren Kritik richtet sich gegen die Kommerzialisierung des Bildungswesens, sie fordern aber auch mehr Freiheiten und Mitbestimmungsrechte in den universitären Hierarchien.
Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, ist jedoch eine starke Selbstorganisation am Arbeitsplatz nötig. Diese Erkenntnis dringt allmählich in das Bewusstsein zumindest der Beschäftigten im Bildungssektor, doch Gewerkschaften beteiligen sich bislang nur vereinzelt an den Protesten. So will die Konföderation der Arbeit (KTR), nicht zu verwechseln mit dem regierungsnahen Verband unabhängiger Gewerkschaften FNPR, erst noch über ihre Teilnahme an einem breiten Protestbündnis beraten. Nicht nur in den russischen Regionen artikuliert sich immer deutlicher das Bedürfnis nach einer sozialen Ausrichtung der Proteste. Die anfänglich bei den Aktionen vorherrschende, fast kindlich anmutende Freude ist längst der Nachdenklichkeit gewichen. Auf die Frage, wie es weiter gehen soll, hat allerdings noch niemand eine überzeugende Antwort parat.
Die vorsichtigen Radikalisierungsversuche des Anführers der Linksfront, Sergej Udaltsow, fanden bislang wenig Anklang. Seine liberalen Bündnispartner üben sich ebenfalls in Zurückhaltung, wenngleich sich in ihre Rhetorik soziale Untertöne einschleichen, etwa wenn Boris Nemtsow, ein liberaler Oppositionspolitiker mit realpolitischer Erfahrung unter der Jelzin-Regierung, die an der sozialen Misere in Russland einen entscheidenden Anteil trägt, plötzlich das Streikrecht einklagt. Aber das heißt eben noch lange nicht, dass er dazu aufruft, davon auch Gebrauch zu machen. Udaltsow schwebt ein Szenario nach dem Vorbild des »Maidan« vor, wie die wochenlange Besetzung der Kiewer Innenstadt während der sogenannten Orangenen Revolution im Winter 2005 genannt wurde. Anstatt jedoch im Oktober, solange die Temperaturen noch erträglich sind, wieder auf die Straße zu gehen, hat das Oppositionsbündnis beschlossen, sich lieber selbst zu feiern und den ersten Jahrestag der Massenproteste Anfang Dezember zu begehen.
Trotz eines steigenden Bekanntheitsgrads oppositioneller Politikerinnen und Politiker sinkt deren ohnehin geringe Popularität. Die Opposition übt sich derweil im Delegieren. Am 21. Oktober soll sich zeigen, wer sich in Zukunft als von der Bewegung legitimierte Sprecherin und Sprecher bezeichnen darf. 45 Mandate stehen im neu zu bildenden Koordinationsrat zur Verfügung, zur Wahl treten neben einigen bekannten Politikern, Journalisten und Geschäftsleuten viele Oppositionelle aus der zweiten und dritten Reihe an, überwiegend Männer, insgesamt über 200 Personen. Ein Teil der Linken ruft zum Boykott auf, andere wiederum halten diesen Schritt für unklug, solange die Linke aus einer schwachen Position heraus agiert. Fünf Plätze sind für die Linke reserviert, ebenso viele jeweils für Liberale und die nationalistische Rechte.
Diese genießen einen Sonderstatus. Einerseits mokieren sich einige Liberale bereits jetzt darüber, nach den Wahlen mit den Anführern der Rechten kooperieren zu müssen. Andererseits haben sie sich mit der Entscheidung für politische Quoten dieses Problem selbst geschaffen. Und es wurde sogar einem Antrag der rechten Kandidaten stattgegeben, den für alle zwingenden Teilnahmebeitrag von 250 Euro für sie, die angeblich die Interessen der armen russischen Bevölkerung vertreten, zu halbieren. Man kann nur hoffen, dass der Koordinationsrat ebenso schnell in Vergessenheit gerät wie so manches Bündnis im vergangenen Winter.
Ute Weinmann