Die Repression gegen Oppositionelle in Russland konzentriert sich immer mehr auf Linke. Die liberale Opposition setzt nicht mehr auf Massenproteste.
Um der Beteiligung an Massenunruhen verdächtigt zu werden, reicht manchmal eine Bagatelle: Dmitrij Rukawischnikow, ein Aktivist der »Linksfront«, soll am Tag vor der Wiedereinführung von Wladimir Putin ins Präsidentenamt bei einer genehmigten Demonstration eine Biotoilette beschädigt und der Polizei während ihres Einsatzes vorsätzlich den Weg versperrt haben. Dabei sieht das russische Strafrecht nur dann Massenunruhen als gegeben an, wenn Waffen zum Einsatz kommen. Eine umgestoßene Biotoilette oder Stücke von Asphalt, mit dem weitere Tatverdächtige geworfen haben sollen, fallen an sich nicht unter diese Definition. Dennoch ordnete die Staatsanwaltschaft Anfang April Rukawischnikows Festnahme an und ließ ihm die Haare schneiden, woraufhin ein Mitglied der Sondereinheit Omon ihn als den gesuchten Übeltäter identifizierte.
Auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau kam es am 6. Mai 2012 zu Handgreiflichkeitenzwischen Demonstranten und Polizisten. Dieses Intermezzo reichte zwar nicht einmal an die Kreuzberger Maifestspiele heran, trotzdem folgten über 600 vorübergehende Festnahmen, die nur den Anfang eines unverhältnismäßig aufwendigen Strafverfahrens darstellten. Zumal die Strafverfolgungsbehörden in den vergangenen Wochen ihre Ermittlungen intensiviert haben und mit weiteren Verhaftungen zu rechnen ist. Ein Demonstrationsteilnehmer wurde bereits zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, 26 weiteren Personen steht der Prozess noch bevor, darunter auch einer 57jährigen Rentnerin. Weit über 300 Zeugenbefragungen und zahlreiche Hausdurchsuchungen in Moskau und einer Reihe anderer Städte scheinen trotzdem noch nicht zum gewünschten Ergebnis geführt zu haben.
Kürzlich wurde der Ermittlungszeitraum bis Mitte Oktober verlängert, was den unter Hausarrest stehenden vermeintlichen Anstifter der Proteste, Sergej Udaltsow von der Linksfront, zu der Annahme veranlasste, dass mit einer Fristverlängerung und der weiteren Ausdehnung der Repression mindestens bis zu den olympischen Winterspielen in Sotschi zu rechnen sei. Diese sollen schließlich ungestört über die Bühne gehen. Während vorübergehende Festnahmen im Zuge der Massenproteste vom vergangenen Jahr bei Demonstrationsneulingen oft sogar zur Festigung einer regierungskritischen Haltung beigetragen hatten, liegt die abschreckende Wirkung des sich ausdehnenden Strafverfahrens auf der Hand. Es fällt zudem auf, dass sich die Aufmerksamkeit der Ermittler immer mehr auf die Linksfront und ihr Umfeld konzentriert, während Oppositionelle aus dem liberalen Lager zumindest in dieser Strafsache praktisch unbehelligt bleiben.
Dafür gibt es gute Gründe. »Die Proteste am 6. Mai haben gezeigt, dass eine Organisation von unten möglich ist«, sagte Aleksej Sachnin, einer der Koordinatoren der Linksfront, der Jungle World. Genau dieser Umstand führe im Kreml zu Beunruhigung. Anders als bei den vorangegangenen Großdemonstrationen spielte die Linksfront als Mitveranstalter beim ersten »Marsch der Millionen« eine tragende Rolle und die vor Putins Wiederwahl von politischer Unbedarftheit geprägte Grundstimmung im Protestlager begann einem entschlosseneren Vorgehen mit sozialen Forderungen zu weichen. Die führenden Vertreter der liberalen Opposition hingegen streben spätestens seit dem vergangenen Herbst keine Massenproteste mehr an. Einige versprechen sich mehr von Verhandlungen mit gesprächsbereiten Angehörigen des Establishments, was den politischen Machthabern wiederum sehr entgegenkommen dürfte, da ohne Druck von der Straße ohnehin keine Verhandlungen möglich sind. Der nationalistische Antikorruptionspolitiker Aleksej Nawalnyj kündigte Anfang April gar Ambitionen auf das Präsidentenamt an.
Derweil werden auch immer mehr Anarchisten und Antifaschisten mit Strafverfahren mit fragwürdigen Beweismitteln belangt. Jüngstes Beispiel sind zwei Festnahmen von Antifaschisten in Kazan, denen »Hooliganismus« vorgeworfen wird.
Ute Weinmann