Die olympischen Winterspiele in Sotschi sollen als Ereignis in die russische Geschichte eingehen. Mit einer Reihe von Sonderverordnungen will die Regierung den Anschein von Ordnung und Wohlstand wecken.
Viele ältere Moskauer erinnern sich heute noch daran, wie sie während der olympischen Sommerspiele im Jahr 1980 ins Staunen kamen, als sie mit der eigens für ausländische Delegationen hergerichteten Konsumwelt in Berührung kamen. Plötzlich gab es Köstlichkeiten aus dem kapitalistischen Ausland wie finnische Butter, Joghurt und Fanta zu kaufen. Auch die Einwohner von Sotschi kommen heute aus dem Staunen nicht heraus. Anlass sich zu wundern ist diesmal keine Limonade aus dem Westen, sondern der Glanz und Glamour in dem zuvor viele Jahre dem Verfall preisgegebenen Hafengebäude ihrer Stadt, in dem nun Edeldesigner wie Gucci und Louis Vuitton residieren. Die Reaktionen der Bevölkerung von Sotschi auf die bevorstehenden Spiele und die Umgestaltung der Region sind sehr unterschiedlich. Einige Leute können den Veränderungen etwas Positives abgewinnen – im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne. So mancher ist fasziniert von der neu geschaffenen Infrastruktur, andere dagegen mussten den olympischen Sportstätten ohne ausreichende Kompensationszahlungen weichen oder sitzen wegen der Bauarbeiten regelmäßig ohne Strom und Gas in ihren Häusern; manche warten vergebens auf die versprochene Umsiedlung und blicken wenig optimistisch in die Zukunft.
Wer bislang nicht von den Kapitalflüssen nach Sotschi profitieren konnte, hat jetzt nur noch eine letzte Gelegenheit, mit den Winterspielen Geld zu verdienen. Die Vermietung von Privatunterkünften ist im Prinzip jedem erlaubt und weil die Hotels der Region schon lange ausgebucht sind, hoffen viele auf ein lukratives Geschäft. Die Preise während der Spiele liegen schließlich um ein Vielfaches über dem für die touristische Sommersaison üblichen Niveau. Für ein 13 Quadratmeter großes Zimmer in einem unsanierten Haus müssen Fans rund 2 000 Euro zahlen, es geht aber auch teurer, zumal viele Haus- und Wohnungsbesitzer speziell in Renovierungsarbeiten investiert haben.
Kurz vor Beginn der Spiele wartet der Staatsapparat allerdings mit Überraschungen auf, die die Einnahmen privater Vermieter schmälern könnten. Im November 2013 verfügte der russische Präsident Wladimir Putin, dass sich während der Spiele nicht nur Ausländer an Ort und Stelle bei den Behörden melden müssen, was ohnehin vom Gesetz vorgesehen ist, sondern auch russische Staatsbürger. Sie müssen sich innerhalb von drei Tagen beim Migrationsdienst registrieren lassen. Das Amt ist aber jetzt schon überfordert. Deshalb werden kaum alle angereisten Sportfans das Registrierungsverfahren durchlaufen können und wollen. Im Fall einer Kontrolle werden Bußgelder fällig. Oder die angereisten Gäste gehen den inoffiziellen Weg und zahlen für die eigentlich kostenlose Registrierung die Summe von 150 Euro. Passkontrollen sind während der Spiele an jeder Straßenecke und jedem Haus vorgesehen.
Derlei Ärgernisse gibt es zuhauf, wie die Internet-Nachrichtenseite »Hallo Sotschi« dokumentiert. Eine jüngst erlassene Verordnung sieht vor, dass alle Fenster in der Stadt geputzt sein müssen, und zwar sowohl die Außen- als auch die Innenseite. Wer dem staatlichen Sauberkeitsdiktat nicht Folge leistet, riskiert eine Ordnungsstrafe von 22 Euro. Mit wesentlich härteren Strafen werden lokale Umweltschützer belangt: Im Juni 2012 erhielten Jewgenij Witischko und Suren Gasarjan eine Bewährungsstrafe, weil sie durch eine Aufschrift einen Zaun beschädigt haben sollen, hinter dem sich die Datscha des Gouverneurs der Region Krasnodar, zu der Sotschi gehört, befindet. Auf dem Grundstück von Alexander Tkaschjow, so die Umweltaktivisten, seien unter Naturschutz stehende Bäume gefällt worden. Zuvor war wegen ungesetzlicher Errichtung eines Zauns Rechtsbeschwerde bei der Staatsanwaltschaft eingelegt worden, die aber lediglich mit dem Kommentar reagierte, dass dieser Zaun gar nicht existiere. Gasarjan erhielt Asyl in Estland, Witischko dagegen, der sich auch als Lokalpolitiker engagiert und in dieser Funktion nicht nur dem Gouverneur, sondern auch dem Mineralölunternehmen Rosneft in die Quere kam, blieb in Sotschi. Am 20. Dezember wandelte das Gericht seine Bewährungsstrafe in drei Jahre Haft um. Witischko vermutet, hinter dieser Entscheidung könnte der russische Inlandsgeheimdienst FSB stehen. Zwei Tage nach dem Urteil erhielt die in der Region ebenfalls bekannte Umweltaktivistin Natalja Kalinowskaja Besuch von der Polizei. Sie und ihre Kollegen von der »Ökologischen Wacht im Nordkaukasus« gehen davon aus, dass es eine Art schwarze Liste für aufmüpfige Bürger gibt, deren Aktivitäten ständig kontrolliert werden.
Andere haben der Region bereits den Rücken gekehrt. Im August verfügte Gouverneur Tkatschjow, dass bis zum 1. November 2013 alle ausländischen Arbeitskräfte Sotschi zu verlassen haben. Ausgedehnte Razzien gegen die nach Schätzungen bis zu 50 000 in erster Linie aus Usbekistan, Tadschikistan, Moldawien und der Ukraine stammenden Arbeitsmigranten gab es bereits im Sommer. Viele Arbeiter haben nur einen Bruchteil des ihnen versprochenen Lohns erhalten oder sind leer ausgegangen. Semjon Simonow vom Netzwerk »Migration und Recht« hat in 700 Fällen wegen Nichtauszahlung von Löhnen und Gehältern Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet, allerdings geht er davon aus, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegt. Die Verordnung machte es möglich, dass ausländische Arbeitskräfte abgeschoben werden, ohne dass sie entlohnt wurden. Längst nicht alle Arbeitgeber hatten sich um entsprechende Arbeitsgenehmigungen für ihre Beschäftigten gekümmert. Entsprechend einfach ist es oft, Menschen Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz nachzuweisen – die Zahlung ausstehender Löhne erledigt sich für unseriöse Arbeitgeber damit von selbst.
Inzwischen halten sich in Sotschi kaum noch Ausländer auf, Arbeitskräfte aber werden weiterhin dringend benötigt. Zuerst warben die Behörden Arbeiter aus dem Nordkaukasus an, die sich ursprünglich aus Sicherheitsgründen gar nicht in Sotschi aufhalten durften. Ein Aufruf des Arbeitsministeriums, Arbeitslose aus ganz Russland könnten sich in der Olympiastadt verdingen, führte nicht zum gewünschten Erfolg. Dann aber fanden sich doch noch viele freiwillige Helfer ein, die es als große Ehre ansehen, beim größten Spektakel der jüngeren russischen Geschichte einfach nur dabei zu sein, auch wenn sie während ihres Dauereinsatzes von der sportlichen Seite des Events kaum etwas mitbekommen dürften. Dafür bekommen sie viele frisch geputzte Fenster zu sehen.
Ute Weinmann