Seit November flauen die regierungskritischen Proteste in der Ukraine nicht ab. Das Zentrum der Protestbewegung ist der Maidan-Platz, der »Unabhängigkeitsplatz« in der Hauptstadt Kiew. Die Jungle World sprach mit Denis Lewin über die Allgegenwart rechter Parolen, den Einfluss der rechtsextremen Partei Swoboda (»Freiheit«) und die Schwierigkeit, linken Positionen bei den Protesten Gehör zu verschaffen. Lewin ist Vertreter der freien ukrainischen Eisenbahngewerkschaft und Mitglied der linken Vereinigung Borot’ba.
Viele Linke in der Ukraine stehen der europäischen Integration skeptisch gegenüber. Worin besteht deren Kritik und wie stark ist die Linke bei den Protesten auf dem Maidan vertreten?
Die Kritik besteht darin, dass weder die europäische Integration noch ein möglicher Beitritt zur Zollunion mit Russland Lösungen für die Probleme der Ukraine und ihrer Bevölkerung bietet. Die neoliberalen Reformen werden nicht gestoppt, die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche wird nicht beendet, sondern diese Prozesse werden sogar noch verstärkt. Außerdem befinden sich sowohl die Europäische Union als auch Russland, wie die ganze Welt, in einer schweren Krise und der Beitritt zu einem der neoliberalen Bündnisse befreit uns nicht von den Folgen dieser Krise. Wir benötigen eine tiefgehende soziale und ökonomische Umgestaltung, die unserer Gesellschaft die Möglichkeit bietet, sich zu entwickeln, die ein für alle erschwingliches und qualitativ hochwertiges Gesundheits- und Bildungssystem etabliert und akzeptable Löhne und Arbeitsbedingungen schafft. Die Linke ist auf dem Maidan praktisch nicht vertreten. Es gab mehrere Versuche von Linken, sich mit sozialen Forderungen dort zu positionieren, aber sie wurden mit Gewalt von den Rechten verdrängt. Das Programm auf dem Maidan wird von Rechtsradikalen diktiert, die dort für Sicherheitsfragen verantwortlich sind, und die Anführer der Proteste sind ohnehin rechte Politiker und Liberale aus der sogenannten Opposition.
Anfang Dezember haben Rechtsradikale Sie beim Verteilen von Flugblättern an einer Metrostation unweit des Maidan angegriffen. Wer hat diesen Übergriff verübt, was war der Grund dafür und wie sahen die Reaktionen darauf aus?
Ich verstehe mich als politischen Aktivisten und bin außerdem bei den unabhängigen Gewerkschaften aktiv, wie auch mein älterer Bruder Anatolij. Die Konföderation der freien Gewerkschaften gab mir den Auftrag Flugblätter zu verteilen, was ich am 4. Dezember gemeinsam mit meinen Brüdern tat. Dabei ging es um die von der ukrainischen Regierung durchgesetzten neoliberalen Reformen, außerdem um die Notwendigkeit unabhängiger gewerkschaftlicher Basisarbeit am Arbeitsplatz. Der Vorsitzende der Konföderation freier Gewerkschaften, Mikhail Volynets, gehört dem Leitungsstab auf dem Maidan an. Er hat die Kommandantur im Vorfeld über unsere geplante Aktion in Kenntnis gesetzt. Gegen 18 Uhr kam vom Maidan eine Gruppe von etwa 100 Personen auf uns zu, von denen 30 maskiert waren und rechtsradikale Abzeichen an der Kleidung trugen. 15 von ihnen griffen mich und meine Brüder an, wobei sie Tränengas einsetzten und unser Zelt einschließlich der Lautsprecheranlage mit Messern zerstörten. Außerdem stahlen sie den Generator und einen Stapel Flugblätter. Die ultranationalistische Partei Swoboda tritt als Sponsor für etliche rechtsradikale Gruppen in Erscheinung und deren aktive Kader üben ihren Einfluss unter anderem auch auf rechte Fußballhooligans aus.
Als wir an dem Abend nach Hause kamen, haben wir erfahren, dass von der Bühne auf dem Maidan ein Aufruf erfolgt war, unser Agitationszelt zu zerstören. Am Angriffsort selbst war es zunächst schwierig herauszufinden, was genau passiert war. Menschen, die den Übergriff aus der Distanz heraus beobachtet hatten, nannten uns Provokateure. Als wir ihnen unsere Flugblätter zeigten, sagten viele, diese seien gefälscht, wie auch unsere Gewerkschaftsausweise. Einige wenige der Beobachter haben letztlich verstanden, dass ihre rechten und rechtsradikalen Anführer einfache Betrüger sind. Bis heute haben ich und meine Familie Solidaritätsbezeugungen von Genossen aus der Linken und Gewerkschaften aus der ganzen Welt erhalten: aus Deutschland, Israel, Schweden, Russland, Kasachstan, den USA. Sehr geholfen haben uns Menschenrechtler von der ukrainischen Initiative »Für einen friedlichen Protest«, linke Oppositionelle, Mitglieder der Studentengewerkschaft »Direkte Aktion« und natürlich auch von unserer Vereinigung Borot’ba.
War das der einzige gewalttätige Übergriff auf Protestierende mit abweichenden Ansichten? Ist es unter diesen Bedingungen überhaupt möglich, soziale Themen auf die Tagesordnung zu bringen?
Das war nicht der einzige Angriff auf Linke auf dem Maidan. Anfangs haben die Rechtsradikalen moralischen Druck ausgeübt, mit Konsequenzen gedroht und Plakate zerrissen, aber zumindest niemanden direkt angegriffen. Sie haben linke Studenten von der »Direkten Aktion« und linke Oppositionelle nur wegen ihrer Plakate mit sozialen Forderungen vom Maidan vertrieben. Schläger aus der Neonaziszene haben Feministinnen bedrängt, die Niedriglöhne für Frauen thematisierten. Ich denke, dass es die Linke nicht schaffen wird, soziale Themen auf die Tagesordnung zu bringen, denn niemand aus der Führungsriege dieser »Opposition« zeigt Interesse daran, soziale Probleme anzugehen, und niemand will selbst Verantwortung dafür übernehmen. Die »Revolutionsführer« sind an hohen Ämtern im Staatsapparat interessiert und im Erfolgsfall bereit, die Macht zu übernehmen. Sie profitieren von der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den herrschenden Verhältnissen, können und wollen diese aber nicht ändern. Vor der Zerstörung des Lenin-Denkmals im Kiewer Stadtzentrum haben einige Leute es gesäubert. Dafür wurden sie von Rechtsradikalen verprügelt. Dabei haben nicht einmal Aktivisten sich um das Denkmal gekümmert, sondern einfach nur Anwohner, die ihren Bezirk sauber halten wollten.
Die Partei Swoboda zeigt mit ihren Losungen allseits Präsenz und demonstriert als Sicherheitsapparat der Protestbewegung Stärke. Inwiefern ist es legitim, von einer Dominanz der Partei bei den Protesten zu sprechen?
Derzeit ist die Linke objektiv betrachtet schwächer als die Rechte. Die Rechte profitierte in den vergangenen 20 Jahren von nationalistischer Propaganda in der Schule, im Fernsehen und anderen Medien. Es ist eine ganze Generation herangewachsen, die Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch, einen der Anführer der Ukrainischen Aufstandsarmee (eine rechtsextreme Miliz, die zwischen 1943 und 1956 militärisch aktiv war, A. d. R.), als Helden verehren. Natürlich spielt jetzt auch eine Rolle, dass die Opposition und Swoboda über erhebliche Finanzmittel zur Mobilisierung ihrer Anhänger verfügen. Die Rechtsradikalen haben ihre gesamten Schlägerkader in Kiew versammelt und zahlen ihnen Fahrtkosten und Tagegeld. Sie agieren im Schutz der Abgeordneten von Swoboda, viele sind als deren Referenten angestellt. Deshalb haben sie auch von der Miliz (die ukrainische Polizei, A. d. R.) nichts zu befürchten. Die Linke kann derzeit bestenfalls an die 100 kampferfahrene Kader stellen, während es bei den Rechtsradikalen über 1 000 sind. Eine Rolle spielt auch die Haltung der Kommunistischen Partei (KPU), die über Geld und Kader verfügt, aber keine Mobilisierung betreibt und auf der Straße keine Präsenz zeigt. Konsequentere linke Gruppen wie beispielsweise die Vereinigung Borot’ba, der ich angehöre, verfügen nicht über das nötige Mobilisierungspotenzial, um gegen die Neonazis auf der Straße Widerstand zu leisten. Wir sind eine junge Organisation und obwohl wir in den vergangenen zwei Jahren um das Dreifache gewachsen sind, sind wir den Neonazis weit hinterher.
Gibt es denn auf dem Maidan überhaupt Kräfte, die der Vorherrschaft der Nationalisten von Swoboda und deren Bündnispartnern etwas entgegensetzen.
Auf dem Maidan sind Organisationen vertreten, die mit keinem der führenden Oppositionspolitiker dort sympathisieren, aber sie befinden sich in einer Situation, in der sie den Protest gegen die Regierung weder aufgeben wollen noch sich abspalten können. Dabei sind sie auf dem Maidan recht bekannt und geschätzt, aber Oppositionsführer versuchen sie heraus zu drängen. So haben Mitte Dezember Mitglieder von Swoboda Aktivistinnen der Organisation Spilna sprava (»Gemeinsame Sache«) tätlich angegriffen, die die Feldküche auf dem Maidan betreiben. Mir scheint, das hatte mit ihrer konsequenten Regierungskritik zu tun.
Auf der Bühne gab es immer wieder antisemitische Äußerungen. Inwiefern treffen diese bei den Protestierenden auf Zustimmung? Wie passen die Forderung nach europäischer Integration und ultranationalistische Losungen wie »Ruhm der Nation« oder »Ukraine über alles« überhaupt zusammen?
Sobald Politiker die Führung der Proteste übernahmen, trat die Forderung nach europäischer Integration in den Hintergrund. Jetzt taucht sie fast nur noch als Gegengewicht zur Annäherung an Russland auf. Bei mir entsteht der Eindruck, dass generell die Akzeptanz rechter Losungen sehr hoch ist. Bei den Protestierenden, zu denen ich Kontakt halte, kann ich sicher sein, dass sie Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus ablehnen, aber in der Menge fallen sie gar nicht auf. Viele derjenigen, die gegen die Staatsgewalt protestieren, sehen in den nationalistischen Parolen nichts Anstößiges. Sie halten sie einfach für Aufrufe zu patriotischem Verhalten. Mit solchen Menschen ist es schwer, darüber zu sprechen, dass sich die antikommunistische Hysterie derzeit auf ihrem Höhepunkt befindet und keine andere Meinung zugelassen wird.
Es entsteht der Eindruck, dass die Protestbewegung weniger vom Wunsch der Annäherung an die EU zusammengehalten wird als von antirussischer Rhetorik. Der Einfluss Russlands auf die Ukraine wird aber sicherlich auch in Zukunft von großer Relevanz bleiben. Die russische Regierung hat die Ukraine mit niedriger angesetzten Gaspreisen bereits für ihre vorläufige Absage an das geplante Assoziierungsabkommen entlohnt, jetzt wird sie das Projekt der Zollunion vorantreiben. Für die ukrainische Linke dürfte Russland mit seinem Modell der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche kaum als Orientierung dienen. Wie sieht die Alternative aus?
Das ist das alte Spiel der Politiker. Vor jeder Wahl wird bei uns die Hysterie in Bezug auf Russland, die gemeinsame sowjetische Vergangenheit und die Frage nach der Staatssprache auf die Spitze getrieben. Mit dieser Methode lässt sich die Wählerschaft spalten und anhand weniger Fragen wird deutlich gemacht, für welchen Oligarchen es lohnt, seine Stimme abzugeben, wer zu »uns« gehört und wer unser »Feind« ist. Mir scheint, es gibt für uns dennoch einen dritten Weg, nämlich eine unabhängige soziale Entwicklung der Ukraine jenseits jeglicher Blöcke und jenseits neoliberaler Bündnisse.
Interview: Ute Weinmann