Die ukrainische Protestbewegung besteht zu einem Großteil aus nationalistischen und rechten Gruppen, aber auch aus Teilen der antifaschistischen und anarchistischen Szene. Die Eskalation der Gewalt hat bisher jede Diskussion über inhaltliche Widersprüche und über das, was nach einem Machtwechsel geschehen soll, verhindert.
Die Protestbewegung der Ukraine ist äußerst heterogen, doch folgt man der Berichterstattung in Deutschland, so muss man den Eindruck haben, dass sich vor allem einer gegen die Obrigkeit durchboxt: Vitali Klitschko, dessen Partei Udar (Schlag) in der Rada, dem ukrainischen Parlament, die zweitstärkste Oppositionskraft ist und finanzielle Unterstützung von der Konrad-Adenauer-Stiftung bezog.
Unbestritten kommen dem Politiker Klitschko unter den Protestierenden derzeit die meisten Sympathien zu, jedenfalls mehr als seinen beiden Kollegen, Arsenij Jazenjuk von der Vaterlandspartei und Oleh Tjahnybok von der rechtsextremen Partei Swoboda. Aber eine richtig gute Figur geben sie trotz der großen Erfolge vom Dienstag alle drei nicht ab. Schließlich werden sie und das von ihnen Erreichte immer an der »orangenen Revolution« von 2004 gemessen, als es zu Neuwahlen kam und in der Folge Viktor Juschtschenko Präsident wurde. Bleiben die Ergebnisse der Proteste hinter denen von damals zurück, käme das aus Sicht vieler Beteiligter einer Kapitulation gleich.
Doch weit mehr als die Opposition steht derzeit natürlich Viktor Janukowitsch unter Druck. Ihm geht nicht gerade der Ruf eines entscheidungsfreudigen Politikers voraus, aber die Richtung der weiteren Entwicklung hat er durch die am 16. Januar verabschiedeten und am Dienstag nun wieder zurückgenommenen repressive Gesetze selbst vorgegeben (siehe Seite 3). Damit leitete der Präsident eine Esakalation des Konflikts ein, zu der Teile der Protestierenden längst bereit waren. Bislang bezog Janukowitsch seinen Rückhalt aus einer ausgeprägten Abneigung im Osten und Süden der Ukraine gegen alle mit den westlichen Regionen des Landes verbundenen politischen Kräfte. Doch selbst dort fanden die Proteste immer mehr Anhänger. Radikaler ging es jedoch im Westen zu. Das Gebietsparlament von Iwano-Frankiwsk hat kurzerhand ein Verbot über Janukowitschs Partei der Regionen und die Kommunistische Partei verhängt, die in der Rada ebenfalls für die repressiven Gesetze gestimmt hatte.
In Lwiw, der Hochburg von Swoboda, entzogen die Abgeordneten der Gebietsregierung ihr Vertrauen und der von Janukowitsch eingesetzte Gouverneur, Generalmajor Oleh Salo, legte zeitweise auf Druck der Protestierenden sein Amt nieder. Zentrum der Proteste blieb die Hauptstadt Kiew. Unweit des Maidan auf der Gruschewski-Straße, die zum Regierungsviertel führt, gingen rechte Straßenkämpfer zum Angriff auf die Polizeisondereinheit Berkut über. Sie gehören zu einem im vergangenen Jahr gegründeten Zusammenschluss diverser rechtsextremer Gruppen, die sich nicht als Teil der Swoboda verstehen, wie Tryzub, UNA-UNSO und die Sozialnationale Versammlung. Eine Woche lang klangen die brutalen, mit Rauchgranaten, Gummigeschossen, Schreckschusspistolen und Molotow-Cocktails geführten Auseinandersetzungen nur während vereinbarter Kampfpausen ab. Brennende Polizisten auf der einen Seite, weit über 1 000 zum Teil schwer verletzte Protestierende und Journalisten auf der anderen Seite. Wesentlich beteiligt an den Zusammenstößen waren neben den Rechtsextremen auch rechte Fussball-Hooligans, ältere Kader vom Maidan, darunter etliche ehemalige Angehörige der staatlichen Sicherheitsdienste, proeuropäische Liberale und sogar Teile der antifaschistischen Szene.
Zusätzlich wurde die Stimmung durch aus der Provinz angekarrte Provokateure, fortlaufende Gerüchte um eine gewaltsame Stürmung des Maidan und die Erklärung des Ausnahmezustandes angeheizt. Unter diesen Bedingungen hatten Klitschko und Jazenjuk mit emotionalen Parolen zu entschlossenem Durchgreifen Erfolg, verloren aber gleichzeitig mit beschwichtigenden Aufrufen, mit dem Angriff doch noch zu warten. Das kam auf dem Maidan seit den jüngsten Erfahrungen mit Polizeigewalt nicht mehr gut an. Zwar fand sich durchaus viel Kritik am Vorgehen der rechten Schläger, gleichzeitig aber bildete der Maidan so etwas wie ein sicheres Hinterland für Verletzte und ermüdete Straßenkämpfer. Nicht nur für Verpflegung und wärmendes Lagerfeuer ist dort gesorgt. Tausende halfen bei der Errichtung von Barrikaden aus Reifen, Gebrauchsmüll und ausgebrannten Fahrzeugen und sammelten Schnee in Säcken, die mit Wasser übergossen wurden und dann fast so undurchdringliche Hindernisse bildeten wie Betonblöcke.
Was wie eine oppositionelle Querfront von Rechten und Linken aussieht, weist allerdings weniger auf fraktionsübergreifende ideologische Übereinstimmungen hin als auf ein überaus diffuses Politikverständnis weiter Teile der Protestbewegung. Die Partei Swoboda hat sich durch ihre Dominanz als verantwortliche Kraft für Sicherheitsfragen auf dem Maidan großen Einfluss verschafft, scheint aber seit Beginn der Straßenkämpfe an politischem Einfluss zu verlieren. Denn Tjahnyboks zögerliches Verhalten im Ernstfall sorgte für Enttäuschung, es entspricht keineswegs den durch seine radikale Rhetorik geschürten Erwartungen an Swoboda. Die Rechten machen keinen Hehl daraus, in eigener Sache für die nationale Unabhängigkeit der Ukraine zu kämpfen und nicht etwa für eine Annäherung an die EU. Ernsthaft kritisiert wird ihre starke Präsenz von der übrigen Protestbewegung nicht. Bereits vor der Eskalation Mitte Januar waren die gewalttätigen Übergriffe auf linke Gewerkschafter und Feministinnen auf dem Maidan kein Thema in der Öffentlichkeit. Noch weniger interessieren Vorfälle wie der Angriff auf zwei jüdische Männer nach dem Besuch der Synagoge in Kiew. Ein Teil der Linken und der Anarchisten übernahm Aufgaben auf dem Maidan oder initiierte einen Streik in der Kiew-Mogiljansk-Akademie, andere distanzieren sich komplett von den Protesten.
Inhaltliche Widersprüche unter den Protestierenden kommen derzeit auch deshalb nicht zum Tragen, weil die Eskalation der Ereignisse zu einem unangreifbaren Konsens geführt hat, wonach Präsident Janukowitsch schnellstmöglich abgesetzt werden muss. Andere Fragen finden keinen Raum mehr, auch die nach der Haltung zur europäischen Integration. Ohnehin spielte diese von Beginn an eine untergeordnete Rolle, auch wenn sie im November der eigentliche Auslöser der Proteste war.
Vielmehr richteten sich die Proteste zuletzt gegen Polizeiwillkür und Korruption sowie die katastrophale Wirtschaftslage. Positiv ausgedrückt ist der größte gemeinsame Nenner schlicht der Wunsch nach Staatlichkeit ohne Exzesse. Symptomatisch und fatal dabei ist, dass keine politische Auseinandersetzung darüber stattgefunden hat, was passieren soll, wenn der Protest auf dem Maidan tatsächlich Erfolg hat. Man sollte meinen, die protesterfahrene Bevölkerung habe Konsequenzen aus dem Machtwechsel von 2004/2005 gezogen und sorge sich jetzt darum, wie Übergangslösungen aussehen könnten, die eine breite, aktive Bürgerbeteiligung ermöglichen, anstatt die Entscheidungsfindung einer kleinen Minderheit zu überlassen. Doch davon kann zumindest bisher nicht die Rede sein. In diesem Punkt gleichen sich die postsowjetischen Republiken, egal ob nach Massenprotesten ein Regierungswechsel stattgefunden hat oder die politische Führung im Amt geblieben ist.
Ute Weinmann