Die Protestierenden in der Ukraine haben die Abesetzung des Präsidenten erzwungen. An der neuen Übergangsregierung werden sich höchstwahrscheinlich jedoch auch rechtsextreme und altgediente korrupte Politiker beteiligen.
Eines ist jetzt schon sicher: Die Ukraine hat mit ihren jüngsten Massenprotesten nicht zum ersten Mal neue Maßstäbe im postsowjetischen Raum gesetzt. Nach drei Monaten haben die Protestierenden des Maidan erreicht, dass das ukrainische Herrschaftsmodell von Präsident Viktor Janukowitsch in sich zusammengebrochen ist. Anders als 2004 war es keine Wahlanfechtung oder »orangene Revolution« für einen konkreten alternativen Kandidaten, die einen Machtwechsel herbeigeführt hat, sondern eine breite Bewegung, die zwar auch von der parlamentarischen Opposition getragen wurde, sich im Verlauf der Proteste aber immer weiter deren Einfluss entzogen hat. Ihre Merkmale sind ein hohes Maß an Selbstorganisation, entschlossenes Vorgehen, militantes Auftreten und ein befremdlicher Nationalismus. Das lässt der extremen Rechten einerseits freien Raum zur Entfaltung, andererseits lehnen viele der Protestierenden auf dem Maidan die Rechten ab. Doch dass sich Janukowitsch überhaupt auf Zugeständnisse eingelassen hat und der Platz trotz heftiger Angriffe der Polizei nicht geräumt wurde, liegt nicht zuletzt am Auftreten des paramilitärischen »Rechten Sektors«. Aus dieser Lektion gilt es Konsequenzen zu ziehen, zumal die Proteste noch längst nicht zum Erliegen gekommen sind.
In der vergangenen Woche haben sich die Ereignisse regelrecht überschlagen. Am 17. Februar trat das nach Beendigung der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden des »Euromaidan« und Polizeisondereinheiten verabschiedete Amnestiegesetz für an den Unruhen Beteiligte in Kraft. Bedingung dafür war die Räumung zahlreicher von Oppositionellen besetzter Verwaltungsgebäude im ganzen Land. Dem kamen diese zwar größtenteils nach, ihre Forderung nach einer sofortigen Verfassungsänderung wurde von der Regierung aber nicht erfüllt. Am Folgetag wollte die Opposition im Parlament, der Rada, trotz Widerstand über ihren Antrag abstimmen, die Verfassung von 2004 wieder in Kraft zu setzen. Zur Bekräftigung ihrer Forderungen versammelten sich Demonstrierende vor der Rada, wo die Situation innerhalb kurzer Zeit eskalierte.
Dem folgten zwei Tage andauernde militante Auseinandersetzungen in Kiew, aber auch in anderen Städten kam es zu Unruhen. In Lwiw erhielten Protestierende Zugang zu Waffenlagern der Armee und der Polizei. Der ukrainische Innenminister Vitali Sachartschenko erteilte den Befehl zur Verteilung von scharfer Munition an Polizeieinheiten, doch trotz des Einsatzes von Granaten und Schusswaffen hielten die Protestierenden des Maidan stand. Die Bilanz ist allerdings ernüchternd: Zwischen dem 18. und 20. Februar gab es dem ukrainischen Gesundheitsministerium zufolge mindestens 82 Todesopfer und Hunderte Verletzte. Ein Großteil der Toten kam durch gezielte Nackenschüsse ums Leben, aber auch Bauch- und Beinschüsse finden sich zuhauf. Im Gewerkschaftshaus, dem sogenannten Stab des Maidan, kamen Menschen bei einem durch Feuergranaten verursachten Brand zu Tode. Gerüchte, wonach es sich bei den Scharfschützen um russische Einheiten gehandelt haben soll, konnten nicht bestätigt werden. Vielmehr erhärtete sich der Verdacht gegen Truppen des Inneren von der Krim.
Am 21. Februar lenkte Janukowitsch ein, nachdem der Rückhalt in seiner Partei zu schwinden begonnen hatte. Er stimmte nach Verhandlungen mit der parlamentarischen Opposition und den Außenministern von Deutschland, Polen und Frankreich vorgezogenen Neuwahlen und der Rückkehr zur Verfassung von 2004 zu. Nach der Parlamentsabstimmung hätte Janukowitsch seine Unterschrift unter die neuen Verordnungen setzen müssen, doch so weit kam es nicht. Auf dem Maidan fanden die Verhandlungsergebnisse keine Zustimmung. Janukowitsch solle sofort abdanken, andernfalls, so das Ultimatum, werde sein Regierungssitz gestürmt, der von Truppen und der Sondereinheit Berkut bereits verlassen worden war. Der Präsident suchte derweil das Weite und soll erfolglos versucht haben, die Ukraine zu verlassen, während die Rada ihn prompt aller Vollmachten enthob. Mittlerweile ist er zur Fahndung ausgeschrieben. Auch einige seiner treuen Gefährten haben die Flucht ergriffen. Innenminister Sachartschenko schaffte es immerhin nach Weißrussland, doch hat ihm der dortige Geheimdienst KGB wenig solidarisch ein Ultimatum unterbreitet: Entweder er verlässt das Land unverzüglich oder er wird festgenommen.
Ein guter Stratege ist Janukowitsch nicht, sonst hätte er erkennen müssen, wann seine Zeit gekommen ist und selbst Russland ihm nicht mehr um jeden Preis den Rücken freihält. Sein Versuch, am Samstag in Charkow die Abspaltung des ukrainischen Ostens zu erklären, scheiterte kläglich. Dabei hätte er bis vor kurzem sicherlich noch politische Möglichkeiten zur Institutionalisierung und Spaltung der Opposition gehabt. Etwas mehr Kompromissbereitschaft und kommunikativeres Verhalten in den vergangenen Wochen hätten ihm womöglich dazu verholfen, seine Amtszeit unter Einbuße einiger Vollmachten zu Ende zu führen. Schließlich stellt niemand in Frage, dass Janukowitsch 2010 durch eine demokratische Wahl einen knappen Sieg über seine Rivalin Julia Timoschenko davongetragen hat. Sein Führungsstil war autoritär, aber im Vergleich zu seinen russischen und weißrussischen Nachbarn gemäßigt, was sich allein schon am Demonstrationsrecht zeigt.
Nun aber muss er mit einem Gerichtsverfahren rechnen, das jenes gegen Timoschenko weit in den Schatten stellen könnte. Das Beweismaterial dafür lieferte er wie auf einem Tablett. Als die Öffentlichkeit am Wochenende Zugang zu seiner Residenz Meschigorje erhielt, fanden sich dort unglaubliche Mengen an Goldnippes und anderen Reichtümern, schließlich hatte er die Ukraine als eine Art Selbstbedienungsladen für sich und seine engen Freunde interpretiert. Die wirkliche Sensation ist aber die fein säuberliche Buchhaltung über illegale Geldtransfers an Tausende Beamte, Angehörige des Polizeiapparats, Firmen, Provokateure und offenbar auch Parlamentsabgeordnete. Nicht nur Janukowitschs übereilte Flucht, auch die Tatsache, dass er es nicht für nötig gehalten oder einfach nicht mehr geschafft hatte, diese Dokumente zu vernichten, wirft viele Fragen auf. Nicht einmal ein Plan B scheint existiert zu haben.
Janukowitschs Partei hat in weiten Teilen einen Seitenwechsel vollzogen. Am Sonntag wurde im Internet eine Videoansprache veröffentlicht, in der der Fraktionschef der Partei der Regionen, Alexander Jefremow, den ehemaligen Präsidenten und sein nahes Umfeld des nationalen Verrats bezichtigt. Die Partei selbst kommt im neuen Selbstverständnis nur als Opfer vor: »Eine ganze Millionenpartei war de facto Geisel einer einzigen korrumpierten Familie.« Der Schock saß tief, aber nur für einen Tag. Nun macht sich die Partei in der Opposition stark.
Die Bildung einer neuen Regierung gestaltet sich indes komplizierter als gedacht. Dabei ist Eile geboten, denn ohne verbindliche Verhandlungspartner gibt es keine Finanzhilfen, weder aus der Europäischen Union noch vom Internationalen Währungsfonds. Und auch nicht von Russland, dessen Regierung zwar einen Unterhändler nach Kiew geschickt hatte, die neuen Machthaber jedoch nicht anerkennt. Die ukrainischen sogenannten Oligarchen nehmen derweil eine abwartende Haltung ein. Parlamentssprecher Alexander Turtschinow von Timoschenkos Vaterlandspartei übernimmt übergangsweise das Amt des Präsidenten bis zu den Neuwahlen am 25. Mai. Aber ein Kabinettschef wird noch benötigt. Wer jetzt Fehler macht – und die sind unvermeidlich –, wird mit großer Wahrscheinlichkeit bei den kommenden Wahlen scheitern. Die mittlerweile aus der Haft entlassene Julia Timoschenko lehnte eine Kandidatur als provisorische Regierungschefin vermutlich aus diesem Grund ab. Ihr Auftritt auf dem Maidan rief zwiespältige Gefühle hervor. Zwar gehörte ihre Freilassung zu den Forderungen der Opposition, aber Timoschenko gilt eher als Unsicherheitsfaktor denn als willkommene Retterin. Ihre Amtszeit als Ministerpräsidentin war von wachsender Korruption und der Unfähigkeit geprägt, für nötige Wirtschaftsreformen zu sorgen.
Auch Vitali Klitschko, der das Präsidentenamt anstrebt, ist von der neuen Konkurrenz wenig angetan. Die rechtsextreme Partei Swoboda unter ihren Anführer Oleh Tjahnybok versucht, Timoschenko durch eine Gesetzesinitiative gleich ganz auszuschalten. Demnach sollen sie und andere hochrangige Politiker, die bereits Ämter bekleidet hatten, in Zukunft von diesen ausgeschlossen werden. Öl ins Feuer gossen die Rechten von Swoboda außerdem durch die prompte Abschaffung des ohnehin nur unter Schwierigkeiten durchgesetzten Gesetzes zur Mehrsprachigkeit, was die vor allem im Osten der Ukraine ansässige russischsprachige Bevölkerung vor den Kopf stößt. Dabei ist die Unterstützung des Ostens für die neuen Machthaber in der Ukraine gerade jetzt alles andere als gesichert.
Noch ist alles in Bewegung, doch die neofaschistischen paramilitärischen Gruppen vom »Rechten Sektor« dürfen bereits triumphieren. Sie haben eines ihrer Ziele erreicht: die Aufnahme von aktiven Kadern in das neugebildete Innenministerium. Und die Protestierenden vom Maidan sollten sich schon einmal darauf vorbereiten, die neue Regierung zu kontrollieren. Gründe dafür wird es zuhauf geben.
Ute Weinmann