In der Ostukraine ist die kurze Waffenpause vorbei, die Kampfhandlungen eskalieren. Die ukrainische Regierung und die Separatisten wollen ihre jeweiligen Truppen massiv aufstocken.
Es ist, als habe es nie Vereinbarungen über einen Waffenstillstand und die Schaffung einer von großkalibrigem Kriegsgerät geräumten Sicherheitszone gegeben. Im Januar eskalierten die Kampfhandlungen im Osten der Ukraine erneut. Generalmajor Alexander Rosmasnin, der ukrainische Leiter des ukrainisch-russischen Kontrollzentrums, das nach dem Minsker Abkommen vom vergangenen September über die Einstellung der Gefechte und die Stabilisierung der festgelegten Demarkationslinie wachen soll, spricht für Dezember von bis zu zehn massiven Beschüssen pro Tag. Im Januar verzeichnete er 142 pro Tag. Die Intensivierung der Gefechte führt auch unter der Zivilbevölkerung zu Todesopfern, doch liegen weder exakte Zahlen vor, noch lässt sich immer zweifelsfrei feststellen, wer geschossen hat.
Am 13. Januar geriet unweit der Stadt Wolnowacha im Donezker Gebiet ein Bus beim Passieren eines ukrainischen Kontrollpostens unter Beschuss: 13 Menschen starben. Einige Indizien lassen darauf schließen, dass diese Toten – und weitere Opfer nach dem Beschuss eines Trolleybusses im Zentrum von Donezk – auf das Konto der Separatisten gehen. Am gleichen Tag forderten die Separatisten in einem Ultimatum die ukrainischen Streitkräfte auf, das Gelände des Donezker Flughafens zu räumen, andernfalls würden sie zum Angriff übergehen. Es folgte ein strategisch sinnloser Kampf um den inzwischen komplett zerstörten Flughafen, dessen Einnahme allenfalls symbolischen Wert hat.
Des Weiteren erfolgten Angriffe auf die Hafenstadt Mariupol, die zum Donezker Gebiet gehört, aber von der ukrainischen Armee kontrolliert wird. Zwar blieb es bei einer kurzen Attacke, aber es ist nicht auszuschließen, dass die Einheiten der Donezker »Volksrepublik« früher oder später in die Offensive gehen. Denn angesichts der verheerenden ökonomischen Lage, verschärft durch die Wirtschaftsblockade des Donbass auf Anweisung der ukrainischen Führung, bietet allein der Zugang zum Meer Aussicht auf eine stabile Versorgung der vom Krieg mitgenommenen Bevölkerung in den abtrünnigen Gebieten. Anders gesagt: Der Hafen bietet hervorragende Möglichkeiten, in großem Maßstab mit Schmuggelware zu handeln. Derzeit steht der Eisenbahnknotenpunkt Debaltsewo im Zentrum der Aufmerksamkeit. Um die Ortschaft und die angrenzenden Gebiete toben heftige Kämpfe, wobei staatsnahe russische Medien triumphierend von einer erneuten Einkesselung ukrainischer Truppen berichten, während die ukrainische Armee vermeldet, dass sie den Angreifern nach wie vor die Stirn biete.
Bei allen gegenseitigen Beschuldigungen ist eines sicher: Sowohl die »Volksrepubliken« als auch die Kiewer Regierung haben gegen im Minsker Abkommen festgelegte Abmachungen verstoßen. Die ukrainischen Behörden berufen sich darauf, dass für die Einrichtung einer Pufferzone eine Feuerpause von 48 Stunden hätte eingehalten werden müssen, was nicht der Fall war. Die Vertreter der Donezker und Lugansker »Volksrepubliken« argumentieren, dass wegen des fortlaufenden Beschusses von auf ihrem Territorium gelegenen Ortschaften ein Rückzug schweren Kriegsgeräts nicht in Frage gekommen sei. Allerdings funktionierten im Herbst die Absprachen zwischen ukrainischen und russischen Vertretern des Kontrollzentrums zumindest noch halbwegs. Die russische Seite reagierte auf Meldungen der ukrainischen Kollegen bei Angriffen der Separatisten und sorgte dafür, dass diese ihre Aktivitäten kurzzeitig einstellten. Gleichzeitig nutzten diese die Phase der relativen Zurückhaltung der ukrainischen Streitkräfte, um das von den »Volksrepubliken« kontrollierte Gebiet auf über 500 Quadratkilometer auszuweiten.
Die Separatisten befinden sich in der Offensive und versuchen, so viel wie möglich aus ihrer gestärkten Position herauszuschlagen. De facto sabotierten sie das für Samstag in Minsk angesetzte Treffen der Kontaktgruppe, die über die Umsetzung des Minsker Abkommens sprechen und Bedingungen für einen wirklichen Waffenstillstand aushandeln sollte. Alexander Sachartschenko und Igor Plotnitskij, die Anführer der Donezker und Lugansker »Volksrepubliken«, waren selbst nicht erschienen und ließen stattdessen ihre Stellvertreter anreisen, die keine Bereitschaft zu Verhandlungen erkennen ließen. Voraussetzung dafür seien ein öffentlicher Befehl des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko an die Nationalgarde und die Armee zur Einstellung jeglicher Kampfhandlungen und die Anerkennung der Demarkationslinie auf dem Stand vom 31. Januar. Damit hätten die Separatisten buchstäblich an Land gewonnen und die Legitimation für ihre jüngsten Vorstöße erhalten.
Aber selbst wenn die Minsker Gespräche am Wochenende ihre Fortsetzung gefunden hätten, so ist doch offensichtlich, dass alle Vereinbarungen über kurz oder lang gebrochen würden. Wie im September lassen sich auch nun keine Absprachen über strategische Fragen treffen, die allein dem Blutvergießen ein Ende setzen könnten. Der Krieg wird weitergehen. Sachartschenko kündigte bereits eine großangelegte Mobilisierungskampagne an, die seine Truppen um weitere 100 000 Kämpfer erweitern soll.
Die Kampfhandlungen im Donbass veranlassten auch die ukrainische Regierung dazu, die Armee personell zu verstärken. Mitte Januar begann eine erneute Teilmobilisierung der wehrfähigen Bevölkerung, mit deren Hilfe über das Jahr verteilt in drei Etappen 200 000 neue Soldaten rekrutiert werden sollen. Allerdings lässt die Bereitschaft der Bevölkerung, ihr Leben im Gefecht mit Anhängern der »Volksrepubliken« im Osten der Ukraine aufs Spiel zu setzen, zusehends nach. Oleh Bojko, Leiter der für die Mobilisierung zuständigen Abteilung im ukrainischen Generalstab, spricht davon, dass der Anteil sich freiwillig meldender Soldaten bei der laufenden Mobilisierungswelle nur noch bei sechs Prozent liege, während die Quote bei früheren Einberufungen zu Beginn der bewaffneten Auseinandersetzung im Donbass immerhin 20 Prozent ausgemacht habe. Allzu gut steht es um die Kampfmoral nicht. Im vergangenen Jahr wurden über 200 Strafverfahren wegen Desertion eingeleitet, außerdem laufen derzeit Verfahren gegen 7 500 Einberufene, die sich dem Militärdienst entzogen haben.
Der russische Präsident Wladimir Putin ermutigte Ende Januar ukrainische Männer im wehrfähigen Alter, in Russland Schutz vor der Einberufung zu suchen, und zog in Erwägung, Sonderregelungen zur Legalisierung eines länger andauernden Aufenthalts zu veranlassen. Zwei Tage später gab der russische Migrationsdienst bekannt, dass ukrainische Staatsbürger nicht mehr – wie vom Gesetz vorgesehen – Russland nach 90 Tagen zu verlassen hätten, sondern ausnahmsweise alle drei Monate ihren Aufenthalt bis maximal August verlängern könnten, ohne Antrag auf Asyl stellen zu müssen.
Im Westen sorgte derweil eine andere Aussage Putins für Aufruhr, wonach es sich bei den ukrainischen Kampfeinheiten nicht um eine Armee im eigentlichen Sinne handele, sondern um eine »Fremdenlegion« oder sogar eine »Nato-Legion«, die keinesfalls für die nationalen Interessen der Ukraine eintrete. Putins Äußerung soll Russlands aggressive Haltung im Konflikt mit der Ukraine als legitimes Vorgehen erscheinen zu lassen. Nach dieser Logik – die auch Verschwörungstheoretiker gerne aufgreifen – führen die USA einen unerklärten Krieg gegen Russland, dem nichts anderes übrigbleibe, als Gegenwehr zu leisten. Putin reiche der ukrainischen Führung die Hand und biete sich als Schutzmacht gegen den vermeintlich gemeinsamen atlantischen Gegner an – ein Angebot, das man nicht abschlagen könne.
Auch innerhalb der Ukraine wächst der Druck auf Poroschenko und seine Führungsriege. Unlängst hat die Rada, das ukrainische Parlament, Russland bereits als »Aggressor« bezeichnet, doch Hardliner in den Freiwilligenkampfverbänden drängen die Kiewer Führung, weiter zu gehen: zur Ausrufung des Kriegszustands. Russland erhielte damit automatisch den Status einer Kriegspartei. Die verheerenden Folgen liegen auf der Hand.
Von größter Bedeutung in der jetzigen festgefahrenen Situation ist die innere Verfasstheit Russlands. Je schärfer die Wirtschaftskrise zum Tragen kommt, desto wahrscheinlicher sind radikale und unberechenbare Schritte der russischen Führung.
Die machen sich zunächst vor allem innenpolitisch bemerkbar, aber die Signale nach außen sind unübersehbar. Der »wildgewordene Drucker«, wie die Duma treffend bezeichnet wird, weil sie seit Putins Rückkehr ins Präsidentenamt wie am Fließband umstrittene Gesetzesprojekte absegnet, arbeitet seit den Neujahrsfeiertagen wieder auf Hochtouren. In erster Lesung verabschiedet ist ein Gesetz, das weitreichende Vollmachten gegen Vertreter und Partner unerwünschter ausländischer Organisationen und Unternehmen vorsieht. Nicht nur eine reale oder imaginäre Bedrohung für Russlands Sicherheit gäbe Anlass für Verbote und hohe Strafen, sondern bereits die Beeinträchtigung der Moralvorstellungen der russischen Bevölkerung.
Und wer mit dem ukrainischen Nachbarn sympathisiert, sollte dies nicht allzu offen kundtun. Swetlana Dawydowa, Kriegsgegnerin und bis vor fünf Jahren Mitglied der kommunistischen Partei KPRF, befindet sich seit Ende vergangener Woche wegen Verdachts auf Landesverrat in Untersuchungshaft. Die in der Nähe von Smolensk lebende Mutter von sieben Kindern – davon drei aus der ersten Ehe ihres Mannes – wurde im April 2014 in einem Sammeltaxi unfreiwillig Zeugin eines Telefongesprächs. Ein Mann, der sich am Telefon als Angehöriger der russischen Streitkräfte ausgab, stationiert in einer direkt neben Dawydowas Wohnhaus gelegenen Kaserne, teilte seinem Gesprächspartner mit, dass seine Einheit dazu aufgerufen wurde, sich in Zivil in Moskau einzufinden, von wo die Weiterfahrt nach Donezk geplant sei. Dawydowa gestand, die ukrainische Botschaft über eine eventuell bevorstehende Verlegung russischer Truppen nach Donezk telefonisch in Kenntnis gesetzt zu haben. Ihr drohen nun zwischen zwölf und 20 Jahren Haft.
Ute Weinmann