Trotz Waffenstillstand wurde in den vergangenen Tagen in der Ostukraine weitergekämpft. Auch mit der Umsetzung weiterer in Minsk getroffener Vereinbarungen werden sich die beteiligten Seiten schwertun.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Aber jede Feuerpause, und sei es nur für einen kurzen Zeitraum, ist besser als Dauerbeschuss. Auf diese kurze Formel lassen sich die Ergebnisse der lang erwarteten Verhandlungen von vergangener Woche in Minsk bringen, die den Weg für eine langfristige Friedenslösung im Donbass ebnen sollten. In der Nacht auf Sonntag, so will es die von allen Seiten akzeptierte Verabredung, sollte der Schusswechsel eingestellt werden. Bis dahin gingen die Kampfhandlungen in gewohnter Intensität weiter. Aber auch danach wurde weiter geschossen. Allein am Sonntag vermeldete die Pressestelle der ukrainischen Seite über 112 Beschüsse ihrer Stellungen, während die Militärführung der Donezker »Volksrepublik« von 27 Verstößen der Gegenseite sprach.
Anders als im vergangenen September, als in Minsk ein erstes Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet worden war, brauchte es beim zweiten Anlauf schwereres Geschütz, um alle Seiten zu einer Einigung zu bewegen. Neben der Kontaktgruppe, bestehend aus der Schweizer Diplomatin und Vertreterin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Heidi Tagliavini, dem vormaligen Präsidenten der Ukraine, Leonid Kutschma, dem russischen Botschafter in Kiew, Michail Surabow, und den Anführern der Donezker und Lugansker »Volksrepubliken«, Alexander Sachartschenko und Igor Plotnitskij, fanden Verhandlungen im sogenannten Normandie-Format statt. Angetreten waren die Präsidenten der Ukraine, Russlands und Frankreichs, Petro Poroschenko, Wladimir Putin und François Hollande, sowie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel.
In der Nacht auf den 12. Februar tagten die Verhandlungspartner in einem 16 Stunden andauernden Marathon. Heraus kam im Wesentlichen eine Aufzählung jener Punkte, die bereits in »Minsk 1« vereinbart worden waren: Einstellung der Kampfhandlungen, Schaffung einer von schwerem Kriegsgerät geräumten Sicherheitszone, Kontrolle über die Einhaltung der Bedingungen durch die OSZE, Gefangenenaustausch, Wiederherstellung der Grenzhoheit der Kiewer Zentralregierung, Entmilitarisierung nichtlegitimierter Kampfeinheiten und deren Abzug aus der Ukraine und nicht zuletzt Wegweiser für die Festschreibung eines Sonderstatus für die umkämpften Gebiete im Donbass. Stichtag für die Festlegung der Demarkationslinie wurde der 19. September 2014, also der Frontverlauf noch vor der Winteroffensive der »Volksrepubliken«. Zudem verpflichtet sich die Zentralregierung, die umkämpften Regionen wieder in das ukrainische Bankensystem einzubinden, um Zahlungen aus dem Staatshaushalt zu ermöglichen, während Russland das Unternehmen keinen Rubel kostet.
In gewisser Weise profitieren alle beteiligten Seiten von dem vielgelobten Abkommen, vor allem der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko, der sich vor der internationalen Presse als weiser Gastgeber der komplizierten Friedensverhandlungen in Szene setzen durfte. Dem langjährigen autokratischen Landesfürsten kommt die Aufpolierung seines angeschlagenen Images sichtlich gelegen, insbesondere vor den am Jahresende anstehenden Präsidentschaftswahlen, bei denen er für seine fünfte Amtszeit antritt. Die ukrainischen Streitkräfte benötigen dringend eine Verschnaufpause, zumindest bis durch die derzeit laufende Mobilisierungswelle ein guter Teil der seit dem vergangenen Frühjahr an der Front eingesetzten Soldaten ersetzt werden kann. Auch für Russland ist die zeitweilige Aussetzung von Kampfhandlungen von Vorteil, einzig die ostukrainischen Separatisten bedurften offenbar der durchschlagenden Überzeugungskraft aus Moskau, um sich dem Diktat der Stunde zu fügen. Immerhin haben die Parlamente der »Volksrepubliken« dem Minsker Abkommen zugestimmt. Der Sprecher des Lugansker Volksrates, Aleksej Karjakin, teilte sogar mit, dass mit dem Abzug schwerer Waffen bereits begonnen worden sei. Sein Donezker Kollege, Denis Puschilin, kündigte indes Entsprechendes an, sollte die ukrainische Regierung ihre Versprechen nicht einhalten.
Genau genommen kann die ukrainische Regierung gar nicht alle Punkte des Abkommens einhalten, jedenfalls wird sie sich mit der Umsetzung einzelner davon schwer tun. So soll bis Ende 2015 eine neue Verfassung in Kraft treten, in der eine Dezentralisierung der Ukraine und der Sonderstatus der »Volksrepubliken« festgeschrieben werden. Darin spiegelt sich wohlgemerkt noch nicht einmal die Maximalforderung Putins wider, der seit Beginn der Krise auf eine Föderalisierung des Nachbarstaats pocht. Pawel Klimkin, der ukrainische Außenminister, bestritt im Übrigen, dass die Ukraine sich zu einer Verfassungsreform verpflichtet habe, und wies in seiner Parlamentsrede am Freitag vergangener Woche zudem darauf hin, dass von einer Amnestie der Separatistenführer, die Verbrechen gegen die Menschheit begangen hätten, keine Rede sein könne.
Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk schließt eine Anerkennung der »Volksrepubliken« völlig aus, woraus folgt, dass die von den westlichen Verhandlungspartnern forcierte Forderung nach Lokalwahlen und damit in der Konsequenz einer Legitimierung der jetzigen politischen Führung im Donbass vorerst nicht erfüllt werden wird. Auch Petro Poroschenko relativierte bereits einige der im zweiten Minsker Abkommens festgeschriebenen Punkte. So soll die Wiederaufnahme sozialer Transferleistungen aus Kiew in die abtrünnigen Gebiete erst nach der »Stabilisierung der Lage« erfolgen. Es ist anzunehmen, dass die Zeit dafür längst nicht reif ist. Demnach werden die Separatisten nicht lange nach einem Vorwand für erneute Kampfhandlungen suchen müssen und die ukrainischen Truppen werden zurückschießen.
Finnische Militärexperten hatten darauf hingewiesen, dass sich in dem neuen Abkommen in der Aufzählung der aus der entmilitarisierten Pufferzone zu entfernenden Waffensysteme unter anderem der aus russischer Produktion stammende Mehrfachraketenwerfer vom Typ Tornado-S Erwähnung findet. Erst 2012 eingeführt, gibt es bislang keine Hinweise auf einen Export der Neuentwicklung in andere Länder. So mancher Kommentator vermutete darin einen eindeutigen Beweis für russische Militärpräsenz im Donbass, während die finnischen Experten den Kasus damit erklärten, es könnte sich bei der Nennung der Tornado-S um eine Unachtsamkeit der am Minsker Abkommen beteiligten Seiten handeln. Deren Unterschriften schaffen zwar keine Fakten, bezeugen allerdings zumindest formal, dass dieser Waffentyp neben anderen in den umkämpften Gebieten vorhanden ist.
Alexander Sachartschenko meldete indes nicht nur Ansprüche auf die Hafenstadt Mariupol und den heftig umkämpften Verkehrsknotenpunkt Debalzewo an – bei Redaktionsschluss am Dienstag hatten die prorussichen Separatisten angegeben, Debalzewo zu 80 Prozent eingenommen zu haben –, sondern verkündete, dass seine Truppen, sollte die ukrainische Regierung gegen das Minsker Abkommen verstoßen, auch vor Charkow nicht Halt machen würden. »Wir werden dort schon erwartet«, erklärte der Separatistenführer. »Wenn nötig, greifen sie zu den Waffen und bringen die Faschisten um.« Die Option eines reibungslosen Waffennachschubs aus Russland für weitere Kämpfe bleibt trotz der Minsker Verabredungen bestehen. Die russische Seite beharrte darauf, den Punkt über die Wiederherstellung der völligen Grenzhoheit durch die ukrainischen Zentralregierung so zu formulieren, dass die Grenze zu Russland bis zu einer allseitigen Konfliktlösung de facto unter der Kontrolle der Separatisten bleibt.
Derweil haben trotz deutlichem Nachlassen der Kampftätigkeit an den meisten Frontabschnitten die Kämpfe um Debalzewo zugenommen. Wladimir Putin hatte seine Kenntnisse von der Situation bei dem Minsker Gipfel gesondert zur Sprache gebracht. Beobachter äußerten die Vermutung, dass die russische Seite zu einer Verzögerung der Gespräche beigetragen hatte, in der Erwartung, dass die Separatisten Debalzewo in der Zwischenzeit einnehmen könnten. Aufgrund der strategischen Bedeutung dieser Stadt für den Donbass müssen die ukrainischen Streitkräfte weiterhin mit einem aggressiven militärischen Vorgehen der Gegenseite rechnen. Militärexperten gehen davon aus, dass die Separatisten einen entscheidenden Durchbruch nur mit Hilfe der russischen Luftwaffe erzielen können – über eigene Luftstreitkräfte verfügen die »Volksrepubliken« nicht. Doch das dürfte aus Perspektive Putins nicht in Frage kommen, denn damit würde Russland einen eindeutigen Beweis für seine direkte Beteiligung an den Kampfhandlungen liefern.
Ungewiss bleibt das Schicksal von Nadeschda Sawtschenko. Seit Juli befindet sich die ukrainische Pilotin in russischer Untersuchungshaft. Ihr wird die Mitschuld am Tod zweier russischer Journalisten im Kriegsgebiet in der Nähe von Lugansk zur Last gelegt, außerdem soll sie die Grenze zu Russland illegal als Flüchtling überschritten haben. Sawtschenko leugnet jegliche Schuld. Separatisten hätten sie gefangen genommen und russischen Sondereinheiten ausgehändigt. Seither führt sie ihren eigenen Krieg mit den russischen Strafverfolgungsbehörden und befindet sich seit Mitte Dezember im Hungerstreik. Ihr eilt der Ruf einer ukrainischen Volksheldin voraus. Poroschenko äußerte die Hoffnung auf ihre Freilassung im Zuge der Minsker Vereinbarungen. Die russische Regierung lehnt dieses Anliegen bislang ab.
Ute Weinmann