In Perm-36, dem einzigen erhaltenen stalinistischen Straflager in Russland, wird nun auf Stalins Verdienste verwiesen.
Mal sanft, mal steil ansteigend und wieder abfallend führt der Weg über die Hügel des Ural von der Millionenstadt Perm ins tiefste Hinterland. Man braucht über eine nun gut ausgebaute Straße mit dem Auto gerade mal zwei Stunden bis zum ehemaligen Straflager Perm-36, während die Häftlinge in den über 40 Jahren seines Bestehens eine viele Stunden dauernde beschwerliche Fahrt überstehen mussten. Rund um das Dorf Kutschino, dessen Bewohner ihren Teil zur Erhaltung der Lagerinfrastruktur beitrugen, herrscht völlige Stille. Ab und an wird sie durch das leise Rauschen eines nahegelegenen Flusses durchbrochen, der zum Abtransport der von den Häftlingen gefällten Baumstämme diente.
Perm-36 ist das einzige Lager, in dem ein Gebäudeensemble aus der Zeit des stalinistischen Gulag im Original erhalten geblieben ist. Ursprünglich als sogenannte Arbeitserziehungskolonie gegründet, saßen hier nach Stalins Tod in der Zeit des »Tauwetters« ehemalige Angehörige des Strafverfolgungsapparats ihre Haftstrafen ab. Von 1972 bis zur Schließung 1988 diente das Lager zur Unterbringung als gemeingefährlich eingestufter Gegner des Sowjetregimes, darunter Nazi-Kollaborateure, Kämpfer des bis in die fünfziger Jahre aktiven bewaffneten Widerstands im Baltikum, Spione und solche, deren Vergehen lediglich in einer vom offiziellen Kanon abweichenden Auffassung von grundlegenden Menschenrechten bestand. Da bot es sich an, 1992 auf dem Lagerareal ein Museum über die Geschichte der politischen Repression in der Sowjetunion einzurichten.
Über 20 Jahre lang sorgte ein nichtkommerzieller Trägerverein mit Beteiligung der Regionalverwaltung, unterstützt durch Haushaltszuschüsse und ausländische Fördermittel, für die Renovierung und Instandhaltung der Lagerüberreste und den Museumsbetrieb, wobei die alten Gebäude auf den Staat überschrieben wurden. Ein übereilter Schritt, wie sich herausstellen sollte. Denn der seit 2012 vollzogene allgemeine politische Wandel im Land ging an dem Museum nicht spurlos vorbei. Zumal im gleichen Jahr der Rücktritt des damaligen Gouverneurs Oleg Tschirkunow erfolgte, der der industriell geprägten Stadt Perm eine kurze Periode nahezu avantgardistisch anmutenden kulturellen Wandels verpasst hatte. Von ihm abgesegnete, großangelegte Pläne der Museumsleitung von Perm-36 landeten nach seinem Abgang in der Schublade.
Nach der Absetzung der alten Leitung und der Ernennung einer Museumsdirektorin aus dem Staatsapparat, zahlreichen bürokratischen Razzien einschließlich dreimaliger Kontrolle durch das Zentrum für Extremismusbekämpfung innerhalb eines Jahres, diversen Besuchen der Staatsanwaltschaft und etlichen Gerichtsterminen verkündete der nichtstaatliche Trägerverein Anfang März schließlich seine Auflösung. Der Kampf um die historische Deutungshoheit führte dazu, dass das einst kultivierte Denunziantentum in der Region wieder Auftrieb erhielt. Museumsgegner dürfen endlich triumphieren, allen voran die Sowjetpatrioten von der Bewegung »Das Wesen der Zeit« und vormalige Lagerwärter, die durch die bisherige Ausstellung ihre Ehre in den Schmutz gezogen sahen und auf deren Betreiben die Behörden ihren Kontrollapparat mit unerbittlicher Wucht in Gang gesetzt hatten.
Äußerlich hat sich in der Ausstellung bislang wenig verändert, abgesehen davon, dass der prominenten Dissidenten unter den Häftlingen gewidmete Raum mit einem Vorhängeschloss vor neugierigen Besuchern gesichert wurde. Doch Kritiker rechnen mit dem Schlimmsten. Irina Kisilowa von der NGO Memorial, die am Aufbau des Museums entscheidenden Anteil hatte, berichtet resigniert von Museumsführungen unter neuen Vorzeichen: »Jetzt wird vermittelt, welch großen Anteil Stalin am Sieg im Krieg hatte.« Neben allgemeinen Erläuterungen zum Gulag sucht man vergeblich nach Biographien von Lagerinsassen der verschiedenen Epochen. Das jedoch war auch unter der alten Museumsleitung nicht anders. Dabei gäbe es unendlich viele Geschichten über sie zu erzählen.
Ute Weinmann