Die politische Symbolik der Siegesfeier am 9. Mai hat sich unter Präsident Wladimir Putin geändert. In diesem Jahr kommen auch andere Staatsgäste als sonst.
Ein zweites Mal Berlin einnehmen – das ist der Traum eines jeden vom Sieg über Nazideutschland beseelten russischen Patrioten. Um dieses Bedürfnis symbolisch zu befriedigen, braucht es heutzutage nicht einmal einen Panzer, es reicht ein aufgemotztes Motorrad und die mentale Nähe zu den »Nachtwölfen«, einer für ihre politisch im Trend liegenden, effektvollen Auftritte bekannten Bikergruppe. Knapp über ein Dutzend von ihnen machte sich am 25. April auf, den Siegeszug von Moskau nach Berlin mit ihren zweirädrigen Fahrzeugen nachzuvollziehen, um am 9. Mai im Treptower Park vor dem sowjetischen Ehrenmal triumphal Einzug zu halten. Anders als vor 70 Jahren erwies sich dieses Mal allerdings die EU-Außengrenze als unüberwindbares Hindernis. Polen stufte den Motorradfeldzug als Provokation ein und reagierte mit einem Einreiseverbot. Für den Fall, dass sich der über gegensätzliche Deutungen geschichtssymbolischer Gesten hinausgehende russisch-polnische Konflikt nicht termingerecht beilegen lassen sollte, boten sich polnische Gesinnungsgenossen der patriotischen Biker an, die geplante Route mit ihren Motorrädern zu fahren.
Nach derzeitigem Stand bleiben Repräsentanten der Europäischen Union dieses Jahr den Feierlichkeiten in Moskau zum 70. Jahrestag des Sieges weitestgehend fern. Der Ukraine-Konflikt und die damit einhergehende Zementierung altbekannter und irrtümlich längst überwunden geglaubter negativer Russland-Bilder wirkten sich nicht zuletzt auf die Bereitschaft aus, reale historische Verdienste gebührend zu würdigen.
Auch wenn die bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine komplexe Ursachen haben, so steht doch außer Frage, dass ohne russische Beteiligung keine militärische Eskalation in dem bekannten Ausmaß erfolgt wäre. Reaktionen bis hin zum Boykott bleiben logischerweise nicht aus. Die meisten europäischen Staats- und Regierungschefs haben die Einladung zur Siegesparade auf dem Roten Platz ausgeschlagen, einzig Griechenland hat eine Teilnahme zugesagt und die Islands ist noch möglich. Selbst der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko zieht es vor, den 9. Mai in Minsk zu feiern. Das liegt nahe, schließlich hatte die einstige »Partisanenrepublik« am Sieg der Roten Armee erheblichen Anteil, was sich nicht zuletzt in deren verheerender Opferbilanz widerspiegelt: Fast ein Drittel der Bevölkerung kam während des Kriegs ums Leben.
Leer bleiben werden die Ehrentribünen auf dem Roten Platz während der Militärparade dennoch nicht, nur fällt auf, dass sich der Freundeskreis der russischen Führung nun in östliche und südliche Gefilde verschoben hat. Das mag manche in der Ansicht bestätigen, Russland werde vom Westen bewusst in die Isolation getrieben, dürfte insgesamt jedoch kaum die feierliche Stimmung trüben. Der Tag des Sieges gilt in Russland als ein Freudentag, für dessen Gelingen weniger internationale Anteilnahme erforderlich ist als die Gewissheit, aus eigener Kraft einen mächtigen Gegner besiegt zu haben. Ein Sieg, für den die Sowjetunion einen hohen Preis zu zahlen hatte und dessen Nachwirkungen bis heute spürbar sind.
Unter Präsident Wladimir Putin stieg nicht nur die Popularität dieses Feiertags gewaltig an, vielmehr steht der 9. Mai nun symbolisch für das von staatlicher Seite forcierte Selbstverständnis einer von feindlich gesinnten Mächten umzingelten – und immer missverstandenen – russischen Großmacht. Nur wer Verständnis und Sympathie für diese Form der Selbstinszenierung hegt, darf sich, nebenbei gesagt, das Attribut des Verstehenden zu eigen machen. Zur Untermauerung der Grundhaltung von russischer – statt sowjetischer – Überlegenheit bedient sich ein bemühter Stab an Historikern und Staatsdienern längst nicht nur bei Ereignissen aus der relativ kurzen Sowjetepoche. Geeignete Episoden der vergangenen 1 000 Jahre werden so zurechtdefiniert, dass sie sich ins gängige Geschichtsbild einfügen.
Umfragen zufolge stehen für die Hälfte der russischen Bevölkerung am 9. Mai jedoch nach wie vor die Kriegsveteranen im Mittelpunkt, denen der Sieg über NS-Deutschland zu verdanken ist. Etwa 252 000 von ihnen sind noch am Leben. Zur Siegesparade auf dem Roten Platz darf sich lediglich ein Bruchteil einfinden. Wie in jedem Jahr sind zahlreiche Ehrengäste geladen, wobei die wenigsten von ihnen alt genug sind, um einen Beitrag zum Sieg geleistet zu haben. Für Veteranen gilt indes eine minimale Anwesenheitsquote: ein einziger Vertreter aus jeder Region Russlands. Wer sich auf eigene Faust nach Moskau aufmachen will, kann Anspruch auf einen kostenlosen Flug oder eine Unterkunft geltend machen. Der Zugang zu den Hauptfeierlichkeiten vor den Toren des Kreml bleibt dennoch verwehrt. An die Veteranen wird auf andere Weise erinnert. Etwa 150 000 Menschen haben sich für eine Aktion unter dem Motto »Unsterbliches Heer – Moskau« angekündigt, die am 9. Mai Moskaus Hauptstraße entlang und über den Roten Platz mit den Porträts ihrer am Krieg beteiligten Großväter und Großmütter in der Hand schreiten wollen.
Zu kurz kommt bei den mit großem Aufwand betriebenen Vorbereitungen zum 70. Jahrestag des Sieges die Frage, wer die Sowjetunion im Sommer 1941 angegriffen hat und unter welchen Umständen. Vor den Feierlichkeiten häuften sich Fälle absurder Anschuldigungen wegen angeblicher Verunglimpfung des Andenkens an den »Großen Vaterländischen Krieg« zwischen 1941 und 1945. Kernpunkt der teils strafrechtlichen Verfolgungen und übereilten Vorbeugemaßnahmen ist das gesetzliche Verbot, Nazisymbole zu zeigen. Es lässt sich darüber streiten, ob als Wehrmachtsangehörige mit entsprechenden Abzeichen kenntlich gemachte Spielzeugsoldaten für den pädagogischen Hausgebrauch sinnvoll sind. Aber dass ausgerechnet jetzt ein Strafverfahren gegen Ladenbetreiber wegen des Verkaufs von Spielzeugmodellen mit nazideutscher Kriegstechnik eingeleitet wird, macht deutlich, welchem Handlungsdruck sich die Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt sehen.
Doch damit ist es längst nicht getan. Regierungsnahe Jugendverbände rufen dazu auf, den Einzelhandel zu inspizieren und gegebenenfalls Fälle zur Anzeige zu bringen. Gleiches gilt auch für den Büchermarkt. So zogen Moskauer Buchläden beispielsweise die Graphic Novel »Maus« aus dem Verkehr, in der der Autor und Zeichner Art Spiegelman die Geschichte seines Vaters verarbeitet, der Auschwitz überlebt hatte. Auf dem Buchumschlag sticht ganz deutlich ein Hakenkreuz ins Auge. Eine Moskauer Buchkette erklärte, »Maus« stehe vor dem 9. Mai nicht mehr zum Verkauf, ebenso wie andere Literatur, deren Verbindung zu Nazi-Deutschland offensichtlich ist. Wer ein Hakenkreuz in welchem Kontext auch immer präsentiert, macht sich verdächtig. Die Mitarbeiter eines der Sowjetunion gewidmeten Museums im weit entfernten Kamtschatka überklebten vorsichtshalber alle Hakenkreuze auf sowjetischen Plakaten. Sicher ist sicher. Denn was erlaubt oder verboten ist, angesichts der jüngsten Deutungspraxis scharfsichtiger Behörden und jugendlicher Hüter einer Ordnung, in der NS-Symbolik schlimmer ist als die alltägliche rassistische Gewalt gegen Migranten, steht nirgendwo geschrieben.
Ute Weinmann