Die Präsidentschaftswahlen in Weißrussland vom 11. Oktober hat erwartungsgemäß Alexander Lukaschenko mit 83,49 Prozent der Stimmen gewonnen. Er amtiert seit 1994 und scheut kaum Mittel, um seine politischen Gegner im Zaum zu halten. Auf die vorigen Wahlen im Dezember 2010 folgten gegen diese repressive Maßnahmen und Gefängnisstrafen. Dieses Jahr trat erstmals eine Frau als Präsidentschaftskandidatin an: Tatjana Korotkewitsch landete mit 4,42 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz. Ihre Kandidatur veränderte den Wahlkampf, löste aber keine neue feministische Debatte im Land aus. Die Jungle World sprach darüber und über die politische Lage in Weißrussland mit Irina Solomatina aus Minsk. Die feministische Forscherin und Dozentin leitet die Abteilung für Gender Studies des European College of Liberal Arts in Belarus und rief das Projekt »Gendernyj marshrut« ins Leben.
Wer ist Tatjana Korotkewitsch und wie kam es zu ihrer Kandidatur?
Die Geschichte ihrer Kandidatur sagt viel über die ambivalente Lage der systemischen Opposition in Belarus aus. Im November 2014 unterzeichneten fünf oppositionelle Gruppen eine Vereinbarung über die Prozedur zur Aufstellung eines Einheitskandidaten, ohne auf eine Rückmeldung der linken Partei Gerechte Welt und der Vereinigten Bürgerpartei (OGP, eine konservative Oppositionspartei, Anm. d. Red.) zu warten. Einer der Initiatoren war der junge Politiker Andrej Dmitrijew, der auf eine schnelle Entscheidung drängte. Bereits zu diesem Zeitpunkt offenbarte sich ein Konflikt zwischen Dmitrijews Bewegung »Sag die Wahrheit« und der Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei, Irina Veshtard, die keinen Grund zur Eile sah. Das Hauptmotiv der Debatte bestand darin, mit einer weiblichen Kandidatin die Aufmerksamkeit in Europa auf die Wahlen zu lenken.
Anfangs trat Korotkewitsch als Vertreterin der gesamten Opposition in Erscheinung, aber das änderte sich schnell. Sowohl die Sozialdemokratische Partei als auch die belarussische Volksfront (BNF) entschieden sich dagegen, sie zu unterstützen. Politisch war Korotkewitsch von Anfang an mit dem Namen Andrej Dmitrijew verbunden. 2015 schlug er seiner Sekretärin die Teilnahme am Wahlkampf vor. Es ist anzunehmen, dass er sich das symbolische Kapital von Korotkewitschs Kandidatur nach seinem 35. Geburtstag im kommenden Jahr zu eigen machen wird, wenn er selbst das Recht zur Teilnahme an Präsidentschaftswahlen erhält. De facto führte Korotkewitschs Kandidatur zur Spaltung der Bewegung »Sag die Wahrheit«, deren vormaliger Anführer und Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2010, Wladimir Nekljajew, im April seinen Austritt verkündete. Als dessen Stellvertreter trat Dmitrijew seine Nachfolge an.
Die Idee, eine Frau als Präsidentschaftskandidatin ins Rennen zu schicken, trug zur Spaltung der Opposition bei. Einerseits verschaffte dies der herrschenden Staatsmacht Auftrieb, andererseits stärkte es Dmitrijews Position, der sich als Retter der Opposition inszenierte und gleichzeitig eine neue Generation Oppositioneller förderte, indem er die alte Garde entsorgte. Demnach schaffte die Schwäche der systemischen Opposition die Voraussetzung für den Aufstieg Korotkewitschs in die Politik. Ihr Hauptmotto lautete »Für einen friedlichen Wandel«.
Wie bewerten belarussische Feministinnen die Kandidatur von Tatjana Korotkewitsch? Lagen darin Chancen für die Frauenbewegung oder blieben Genderfragen außen vor, um die konservative Wählermehrheit anzusprechen?
Ich fürchte, dass der Wahlkampf von Tatjana Korotkewitsch der Frauenbewegung keinerlei Chancen bietet und von einer Tagesordnung, die Genderfragen berücksichtigt, nicht die Rede sein kann. Der Erfolg ihres Wahlkampfs steht im direkten Zusammenhang mit der völligen Ausblendung der Genderproblematik in ihrem Programm. Insofern war es der Frauenbewegung unmöglich, den Wahlkampf in ihrem Interesse zu nutzen. Bezeichnend ist auch, dass Tatjana in keiner Weise auf den Aufruf an alle Präsidentschaftskandidaten unter dem Motto »Hört auf die Frauen!« reagiert hat, den Vertreterinnen des Frauennetzwerks »Zusammengehörigkeit durch Kooperation« verfasst hatten. Im von Dmitrijew entwickelten Szenario bleibt für Genderfragen kein Platz, da Tatjana darin die Funktion einer übergangsweise agierenden Führungsfigur in schwierigen Zeiten zukommt.
Die ganze Geschichte um Korotkewitsch zwingt, darüber nachzudenken, ob es sich generell auszahlt, auf die Aufstellung weiblicher Kandidatinnen bei Wahlen zu setzen, wo doch die Aufwertung einer genderorientierten Politik nicht Ergebnis der Beteiligung ist, sondern umgekehrt eine ihrer Antriebskräfte darstellt. Tatjana bleibt nur die Rolle einer Statistin auf Zeit, die ohne enge Kontakte im politischen Establishment und der Wirtschaftselite ihre politische Karriere kaum fortsetzen kann. Solange die Opposition als Geisel der Staatsmacht fungiert, bleibt die Genderfrage eine Geisel der Opposition und jener Frauen, die der Opposition dazu verhelfen, politisches Oberwasser zu gewinnen.
Die Krise in der Ukraine wirkte sich auf die unzerstörbar scheinenden Bande zwischen Belarus und Russland aus. Russland verfolgt mit Skepsis die Äußerungen Lukaschenkos hinsichtlich der territorialen Integrität der Ukraine und die Annäherung von Belarus an Europa. Wie wird das in Belarus wahrgenommen und welche innenpolitischen Veränderungen ergeben sich daraus?
Ich denke, dass das Bündnis zwischen Belarus und Russland trotz Widrigkeiten auf Dauer festen Bestand hat. Korotkewitsch war für den unabsetzbaren Präsidenten von Weißrussland eine durchaus vorteilhafte Rivalin. Sie positionierte sich als gemäßigte Oppositionelle, provozierte im Unterschied zu den Oppositionsführern des Wahlkampfs 2010 keine repressiven Maßnahmen und überdies verlieh Korotkewitschs Beteiligung den diesjährigen Wahlen Legitimität. Schließlich war nicht nur die Opposition zu den Wahlen zugelassen, sondern sogar eine oppositionelle weibliche Kandidatin. Bereits im Juli strich die Europäische Union einige Namen hochrangiger belarussischer Staatsdiener von ihrer Sanktionsliste. Der Europäische Gerichtshof konnte dem belarussischen Oligarchen Jurij Tschisch keine direkte finanzielle Unterstützung des Regimes Lukaschenkos nachweisen und machte die frühere Entscheidung, Tschischs Vermögen einzufrieren, rückgängig. An der internationalen Anerkennung der Wahlen gab es also keine Zweifel. Mehr noch, vermutlich wird Europa diese Wahlen an den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Russland messen – nicht zum Vorteil der letzteren.
Bemerkenswert ist, dass Tatjana vor den Wahlen in einem Interview sagte, angesichts der Tatsache, dass Russland der engste strategische Partner Weißrusslands sei, würde eine ihrer ersten Auslandsreisen im Präsidentenamt dorthin führen – trotz des Wunsches des Großteils ihrer Wählerschaft, sie möge zuerst nach Litauen reisen. Diesen unterschiedlichen außenpolitischen Prioritäten gerecht zu werden, ist unmöglich, aber Tatjana schaffte es offenbar, eine Balance zu finden, insbesondere in einer Gesellschaft, die sich gerne auf die Haltung »Hauptsache es ist kein Krieg« zurückzieht.
Im August amnestierte Lukaschenko sechs politische Gefangene, darunter einen ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und mehrere Anarchisten. Das war wohl ein Signal an Europa und die USA, damit sie die Wahlen anerkennen. Böse Zungen sagen, der Diktatur sei das Geld ausgegangen und deshalb gehe ihr exponiertester Vertreter dazu über, Demokratie zu imitieren. Ist dem so?
Ja, das kann man so einordnen, aber auch als Erfüllung internationaler Forderungen. Bezeichnend dafür war die Entscheidung, all jene freizulassen, die von internationalen Organisationen als politische Gefangene anerkannt waren. Wenige Tage später formierte sich unter Beteiligung von Nikolaj Statkewitsch, einem der Freigelassenen, ein Oppositionsbündnis, das sich die Delegitimierung der diesjährigen Wahlen zum Ziel gesetzt hatte.
Inwiefern machen sich die Entwicklungen in der Ukraine in der belarussischen Opposition bemerkbar?
Am 4. Oktober fand in Minsk eine Kundgebung gegen die Stationierung russischer Truppen in Weißrussland statt, die Initiatoren stammten aus dem bereits erwähnten Oppositionsbündnis. Sie bezogen sich dabei auf die Situation in der Ukraine und darauf, dass russische Militärbasen die Unabhängigkeit des Landes gefährden und zur Konfrontation mit den europäischen Nachbarn führen würden. Ein Teil der Opposition hofft also auf die Polarisierung der belarussischen Gesellschaft. Die systemische Opposition, deren Parteien sich politisch kaum voneinander unterscheiden und keine relevanten Bevölkerungsgruppen vertreten, versucht erst gar nicht, Antworten auf globale und lokale Herausforderungen zu finden. Wie sehr sich eine Gesellschaft innerlich spalten kann, veranschaulicht der russisch-ukrainische Konflikt. Das ist prinzipiell auch in Weißrussland möglich, und sei es nur nach russischem Szenario, wo die Ereignisse auf der Krim und im Osten der Ukraine zu einem tiefen Bruch innerhalb der Gesellschaft geführt haben.
Interview: Ute Weinmann