Nach dem Abschuss eines in Syrien eingesetzten russischen Kampfjets durch die Türkei ist das Verhältnis beider Länder angespannt.
Heute Freund, morgen Feind – in Russland ist dies immer häufiger der Fall. Die Beendigung vormals freundschaftlicher oder doch vorteilhafter Beziehungen wird allmählich zur Gewohnheit. Nun ist die Reihe an der Türkei. Als Anlass diente der am Morgen des 24. November erfolgte Abschuss eines russischen Bombers durch einen türkischen Kampfjet vom Typ F-16. Erstmals seit den fünfziger Jahren kam es somit zu einem Abschuss eines russischen beziehungsweise sowjetischen Militärflugzeugs durch ein Nato-Mitgliedsland. Die Nato reagierte auf den Vorfall recht gelassen und ergriff klar Partei für ihren Bündnispartner, dessen Regierung von einer Verletzung des türkischen Luftraums durch Russland sprach. Gleichzeitig forderte der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, die beteiligten Seiten zur Deeskalation auf. Der russische Präsident Wladimir Putin fand härtere Worte, indem er von einem »Stoß in den Rücken« sprach.
Zum Zeitpunkt des Abschusses befand sich das russische Kampfflugzeug auf dem Rückweg von einem Einsatz in Nordsyrien zu seinem Militärstützpunkt Hmeimim in Syrien. Das Flugzeug ist der türkischen, vom US-Militär bestätigten Version zufolge kurzzeitig in türkischen Luftraum vorgedrungen. Auf Warnungen habe die Besatzung nicht reagiert, weshalb die F-16 schließlich eine Rakete in den hinteren Teil der Maschine abfeuerte, so dass den Piloten Zeit blieb, sich mit ihren Schleudersitzen herauszukatapultieren. Allerdings überlebte nur einer der beiden Piloten, Konstantin Murachtin, der zweite starb noch während des Absprungs mit dem Fallschirm durch Bodenbeschuss, für den sich syrische Turkmenen verantwortlich zeigten, die in der betreffenden Region, gemeinsam mit der Freien Syrischen Armee gegen den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad kämpfen. Bei der Rettungsaktion kam ein weiterer russischer Soldat ums Leben.
Der Pilot Murachtin stellte den Ablauf gegenüber Journalisten anders dar. Seine Maschine habe syrischen Luftraum nicht verlassen, er kenne den Grenzverlauf in der bergigen Gegend von zahlreichen Einsätzen wie seine Westentasche. Zudem habe die schnellere und wendigere türkische F-16 weder Warnzeichen von sich gegeben noch versucht, die russische SU-24 abzudrängen. Zumindest letztere Behauptung scheint den Tatsachen zu entsprechen, dennoch hatte es eine Verwarnung von türkischer Seite gegeben, allerdings auf diplomatischem Weg. Wenige Tage vor dem Abschuss hatte das türkische Außenministerium den russischen Botschafter in der Türkei zu einem Gespräch vorgeladen, in dem Russland aufgefordert wurde, Bombenangriffe gegen die syrischen Turkmenen umgehend zu beenden.
Die syrischen Turkmenen gelten der Türkei als verlässliche Partner beim südlichen Nachbarn. Präsident Recep Tayyip Erdoğan forderte im Sommer sogar die Schaffung einer Art Pufferzone in der Region unter türkischer Militärkontrolle, doch sein Generalstab lehnte diese Pläne ab. Bereits im Oktober, also kurz nach dem Beginn des russischen Militäreinsatzes in Syrien, sorgte das gezielte russische Vorgehen gegen Assads turkmenische Gegner im Nordwesten Syriens bei der türkischen Regierung für Verdruss. Die russische Regierung behauptet, in den dortigen Bergen betreibe der »Islamische Staat« Ölverarbeitungsanlagen und illegalen Ölhandel mit der Türkei, Beweise dafür bleibt Russland jedoch schuldig. Klar ist indes, dass die syrischen Turkmenen der Armee Assads in der jüngsten Zeit stark zugesetzt haben und die russische Luftwaffe mit ihren Angriffen auf deren Stellungen die Truppen des syrischen Regimes de facto unterstützt.
Auch die Behauptung der russischen Regierung, in dem nordsyrischen Gebiet hielten sich etliche der aus Russland nach Syrien gereisten Jihadisten auf, ist nicht belegt. Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew äußerte sich bereits Mitte Oktober über die Zielsetzung Russlands im Syrien-Konflikt: Dem Vorwurf, Russland sei am Machterhalt von Präsident Assad interessiert, begegnete er mit der Aussage, Russland verfolge dort seine eigenen nationalen Interessen. Würden die Terroristen nicht in Syrien bekämpft, würden sie in absehbarer Zeit bis nach Russland vordringen. Dass Russland, wie mehrfach behauptet, es tschetschenischen Jihadisten erleichtert habe, in die Kriegsregion auszureisen, trifft höchstens teilweise zu. Vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi ging das russische Militär davon aus, dass angesichts möglicher Terrordrohungen im Süden Russlands die Ausreise tschetschenischer Jihadisten zur Gefahrenbegrenzung im eigenen Land beitragen könnte und jene in Syrien noch dazu größtenteils getötet würden. Spätestens seit Sommer 2014 versucht Russland jedoch, die Ausreise von IS-Sympathisanten zu verhindern.
Während die Türkei aufgrund ihrer strategischen Lage in der Flüchtlingsfrage von der Europäischen Union derzeit umworben wird (siehe Seite 15), drohen ihr in Russland Milliardenverluste. Putin forderte von Erdoğan eine offizielle Entschuldigung für den Abschuss der Militärmaschine, der türkische Präsident hatte damit jedoch keine Eile. Ein Telefongespräch auf Initiative von Erdoğan etwa acht Stunden nach dem Abschuss kam nicht zustande, auch der Vorschlag, sich in Paris beim Weltklimagipfel zu unterhalten, traf bei Putin auf Ablehnung. Beide Präsidenten verharren in ihrer Pose und sind sich darin gar nicht unähnlich. Erdoğan drückte zwar sein Bedauern aus, aber erst, nachdem Russland ihm das Ausmaß seiner Reaktion vor Augen geführt hatte.
Ab dem 1. Januar 2016 will Russland den visafreien Reiseverkehr mit der Türkei aufheben. Ab dann dürfen russische Firmen keine türkischen Staatsangehörigen mehr beschäftigen, bereits ab dem 1. Dezember gilt ein Verbot für Charterflüge in die Türkei, russische Reisagenturen dürfen keine Angebote mehr für Urlaub in der Türkei machen, obwohl ihnen unlängst bereits der lukrative ägyptische Markt weggebrochen ist. Türkische Investitionen in Russland werden auf Eis gelegt, allein auf der von Russland annektierten Krim fallen damit Gelder in Höhe von einer halben Milliarde US-Dollar weg, die angesichts des Status der Halbinsel kaum aus anderen Quellen kompensiert werden dürften. Einfuhrverbote für Kleidung und weitere Güter wurden gefordert; eine Liste für das Verbot des Imports einiger Lebensmittel, vor allem Obst und Gemüse, liegt bereits vor. Zum Neujahrsfest dürfen sich alle noch einmal satt essen, bevor die Gürtel enger geschnallt werden müssen. Ein Teil der Bevölkerung trägt die Maßnahmen mit, kompensiert werden sie durch den immer mehr Akzeptanz findenden zweifelhaften Ruhm einer militärischen Großmacht.
Äußerst rigide gestaltet sich das Vorgehen der russischen Behörden gegen türkische Staatsangehörige. In mancherlei Hinsicht erinnert es an staatliche Kampagnen aus den vergangenen Jahren, beispielsweise gegen Georgier während des militärischen Konflikts 2008. Viele Menschen aus der Türkei wurden in den vergangenen Tagen bereits an der Grenze abgewiesen, darunter auch jene, die in Russland einen festen Wohnsitz und Familie haben. Insbesondere im Süden Russlands kam es zu zahlreichen vorübergehenden Festnahmen und Abschiebungen, im Moskauer Vorort Chimki wurden 400 Angestellte einer türkischen Baufirma festgenommen und es laufen Ermittlungen wegen Verdachts auf die Verbreitung von extremistischer Literatur.
Unter den Nato-Mitgliedern setzt sich Frankreich weiter für eine engere Kooperation mit Russland in der Syrien-Politik ein. In den USA trifft dies auf wenig Begeisterung.
Ute Weinmann