Moskau, es ist Wahltag. Gewählt wird die Duma, schon die siebte in postsowjetischer Zeitrechnung. Wählen darf ich allerdings nicht. Das ist nicht nur eine Frage des Passes, sondern der Meldeadresse. Etwa zwei Drittel der volljährigen Einwohner der Megastadt haben offiziell ihren festen Wohnsitz an einem anderen Ort und verfügen bestenfalls über eine befristete Anmeldung. In dem Fall ist der Versuch sich in Moskau einen Wahlzettel zu erschleichen sinnlos. Nur einmal habe ich es wohl aus Versehen bei den Bürgermeisterwahlen in eine Liste ehrenwerter Hauptstadtbewohner geschafft und ein Schreiben vom Bürgermeister bekommen mit dem fast unwiderstehlichen Vorschlag, meine Stimme abzugeben. Von dem Angebot habe ich keinen Gebrauch gemacht. Vermutlich hat das dann jemand anderer an meiner Stelle erledigt.
Ungefähr so: In der Metro stoße ich buchstäblich mit meiner alten Bekannten Dascha zusammen, ihres Zeichens Moskauer Vertreterin des Außenministeriums der Donezker «Volksrepublik». Sie kandidierte bei den Dumawahlen für die «Kommunisten Russlands» — nicht zu verwechseln mit der Kommunistischen Partei KPRF -, und das nur deshalb, weil ihrem eigentlichen Favoriten, der «Vereinigten Kommunistischen Partei», bislang kein Erfolg beschert war sich zu registrieren. Früher war sie schon mal Abgeordnete, aber damals war das Parlament noch nicht so übersichtlich strukturiert wie heutzutage und das Einige Russland existierte noch nicht einmal. Dascha kommt gerade aus einem Wahllokal und ist auf dem Weg an höherer Stelle eine Beschwerde einzureichen. Im Wahlregister entdeckte sie die Namen ihrer beiden Nachbarinnen, daneben eine Unterschrift, mit der die Aushändigung der Wahlzettel ordentlich quittiert werden. Dascha hat allerdings berechtigte Zweifel an deren Echtheit, denn ihre russlanddeutschen Nachbarinnen halten sich seit mehreren Jahren arbeitsbedingt in Deutschland auf. Unwahrscheinlich, dass sie die Wahlbehörde davon in Kenntnis gesetzt haben. Dascha aber sollte es ohnehin besser wissen als die Menschen vom Amt, sie hütet nämlich derweil deren Wohnung und hätte es sicherlich bemerkt, wenn die beiden Damen, oder eine davon, um ihrer moralischen, ja vaterländischen Pflicht als wahlberechtigte Moskauerinnen nachzukommen, am vergangenen Sonntag an ihrem Wohnsitz aufgetaucht wären. Die Wahlhelferin konnte und wollte diese Logik nicht nachvollziehen. Anfangs versuchte sie es mit klassischen Zurechtweisungen von wegen Dascha sei so eine Dahergelaufene, da könne schließlich jeder irgendwelche Behauptungen aufstellen. Und ein Recht sich zu beschweren habe sie sowieso nicht. Aber weil das bei Dascha keinen Eindruck hinterließ, folgte das denkbar schlagkräftigste Argument: «Ich habe die Frau doch gesehen! Sie war hier!» Das soll mal jemand widerlegen.
Noch nie haben so wenige Wahlberechtigte ihre Stimme abgegeben wie bei diesen Parlamentswahlen. Will sagen selber abgegeben. Andere haben nachgeholfen, damit die Beteiligung nicht bei desaströsen zwanzig Prozent bleibt, sondern wenigstens knapp 50 Prozent erreicht. So mancher Beobachter durfte mit eigenen Augen zusehen, ansonsten kursieren Videos im Netz, beispielsweise aus Rostow am Don. An der Längsseite einer Turnhalle läuft das reguläre Wahlgeschäft, ein paar Meter weiter an der Wand das irreguläre. Dort wirft eine aus einem Nebenraum mit einem Stapel Papier gekommene Frau ein Blatt nach dem anderen in die Wahlurne und holt dann Nachschub. Tschetschenien liegt hinsichtlich der Wahlbeteiligung nur auf dem dritten Platz, dafür durfte die kleine Vorzeigerepublik erstmals seit 13 Jahren über ihren Präsidenten abstimmen. Gewonnen hat, wie es sich gehört, Amtsinhaber Ramsan Kadyrow. Für ihn persönlich war das Prozedere also ein Novum, und die tschetschenischen Wahlen waren selbstredend die transparentesten und fairsten überhaupt. So was von Transparenz und Fairness hat mensch dort noch nie erlebt. Alles klar.
Das Einige Russland hat landesweit alle Direktmandate gewonnen, in denen die Partei einen Kandidaten aufstellen ließ, also in 203 von 225. In den anderen durften kremlnahe Politiker absahnen. Oppositionelle hatten das Nachsehen. Selbst Jabloko blieb unter drei Prozent, somit erhält die Partei, die im Unterschied zur liberalen Konkurrenz PARNAS ein Bündnis mit rechtsextremen und nationalistischen Kräften kategorisch ausschließt, nun auch keine Rubel mehr aus der Staatskasse. Verhalten optimistische Stimmen gibt es dennoch. Dass die Jabloko-Kandidatin und profilierte Kommunalpolitikerin Jelena Rusakowa in ihrem Moskauer Wahlkreis auf dem dritten Platz mit nur wenig Rückstand zur KPRF landete, ist eine nicht zu unterschätzende Leistung. Mangels finanzieller Ressourcen fiel ihr Wahlkampf bescheiden aus, die Konkurrenz sorgte dafür, dass ihre Flugblätter schnell von der Bildfläche verschwanden und sie kann von sich auch nicht behaupten, dass der übermächtige Staat hinter ihr stehe. Vielmehr lässt er sie beobachten. Die russische Opposition hat viele Mankos, eines davon ist die fehlende Politikerfahrung. Menschen wie Jelena Rusakowa versuchen sich durch Politik der kleinen Schritte langsam nach vorne zu arbeiten und sammeln dabei wertvolle Erfahrungen, die dem Protestpublikum vor fünf Jahren fehlte. Damals haben viele ihre Stimme gegen das Einige Russland abgegeben aus dem Kalkül heraus, der Kremlpartei damit wenigstens eine Ohrfeige zu erteilen. Enttäuscht vom Wahlergebnis gingen sie auf die Straße. Am Tag nach der diesjährigen Dumawahl blieben alle zu Hause. Auf Distanz gehen ist der sicherste Weg nichts falsch zu machen. Das tun dafür die Anderen.
ute weinmann