Die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ostukraine eskalieren mit dem Einsatz von Artillerie und Mehrfachraketenwerfern. Der Auslöser dafür ist derzeit unklar.
Noch kennt niemand die genaue Anzahl der Toten nach dem jüngsten Aufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine. Fest steht nur, dass auf beiden Seiten auch Zivilsten unter den Opfern sind. Schüsse fallen dort täglich. Das Minsker Abkommen, das die Rahmenbedingungen für eine Lösung des seit bald drei Jahren andauernden Konflikts festlegt, untersagt den Einsatz großkalibriger Geschütze. Dennoch sorgen seit Ende Januar Mehrfachraketenwerfer für erhebliche Schäden sowohl in den sogenannten Volksrepubliken als auch in von der ukrainischen Armee gehaltenen frontnahen Gebieten.
Besonders hart hat es die nur wenige Kilometer nördlich von Donezk direkt an der Demarkationslinie gelegene Stadt Awdijiwka getroffen. Von den einstmals etwa 30 000 Einwohnern haben viele den Ort verlassen, mittlerweile leben dort noch maximal 20 000 Personen. Am 29. Januar nahm der Beschuss der Stadt derart zu, dass zwei Tage später der Ausnahmezustand erklärt wurde. Eine Woche lang gab es keinen Strom, bei eisigen Temperaturen fielen die Heizungen aus, außerdem war wie auch in Donezk und dem daran angrenzenden Makijiwka die Trinkwasserversorgung unterbrochen.
Awdijiwka stand bis Ende Juli 2014 zeitweise unter der Kontrolle der Donezker Volksrepublik, seither gehört die Stadt wieder zum Einflussgebiet der Kiewer Zentralmacht. Sie ist strategisch wichtig, denn dort befindet sich die größte Kokerei Europas, die den ganzen Krieg über unter schwierigsten Bedingungen die Produktion aufrechterhielt. Der Betrieb der Koksöfen darf nicht zum Erliegen kommen, andernfalls müssen sie durch neue ersetzt werden. Auf das dort produzierte Koks ist wiederum das größte Hüttenwerk des Donbass in der Stadt Mariupol angewiesen. Am grenzüberschreitenden Koksgeschäft verdienen eine Reihe einflussreicher Akteure in allen Konfliktparteien.
Spekulationen, warum die Kämpfe sich derzeit intensivieren, gibt es zuhauf. Eine internationale Dimension ergibt sich schon allein daraus, dass sie in den Zeitraum wichtiger politischer Verhandlungen fallen. So fand erstmals ein Gespräch zwischen dem neuen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin statt; das ukrainische Staatsoberhaupt Petro Poroschenko stattete Kanzlerin Angela Merkel in Berlin einen Besuch ab. Putin machte auf einer Pressekonferenz in Budapest die Führung in Kiew für die Eskalation verantwortlich. Sie benötige Finanzhilfen, und diese seien in Europa und den USA am einfachsten herauszuschlagen, indem man sich als Aggressionsopfer in Szene setze. Gleichzeitig könne damit die ukrainische Opposition in die Schranken verwiesen werden angesichts »offensichtlicher Misserfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik«.
Tatsächlich finden sich in der Ukraine zur Genüge kritische Stimmen zu Poroschenkos politischem Kurs. Der Präsident benötigt dringend Erfolgsmeldungen. Eine Option für ihn ist es, eventuelle Zugeständnisse der US-Führung an Russland zu erschweren. Steigende Opferzahlen auf der ukrainischen Seite mögen geeignet sein, die eigene Verantwortung herunterzuspielen und Trump zu einem Entgegenkommen zu bewegen. Ein Telefongespräch zwischen Poroschenko und Trump fand bereits am Wochenende statt, allerdings sagte Trump dabei, für eine Friedenslösung mit allen Seiten kooperieren zu wollen, einschließlich Russland.
Für die russische Regierung hat die Lockerung oder Aufhebung der US-Sanktionen derzeit höchste Priorität; insofern zieht die ukrainische Regierung zumindest theoretisch weitaus mehr Vorteile aus der jüngsten Eskalation. Dennoch bleibt das Interesse der Moskauer Führung an einem schwelenden Konflikt bestehen, der längerfristig nicht nur Einflussmöglichkeiten auf die Ukraine bietet, sondern auch auf ein Tauschgeschäft hinauslaufen könnte. Eine internationale Anerkennung der Krim-Annexion, auch wenn sie derzeit nicht ernsthaft zur Debatte steht, wiegt jedenfalls schwerer als eventuelle Positionsverluste im Donbass. Und für den Umgang mit den »Volksrepubliken« sind sicherlich auch andere Modelle denkbar.
Die von Putins Sprecher Dmitrij Peskow vor wenigen Tagen vorgebrachte Behauptung, es handele sich bei dem Konflikt im Donbass nicht um einen Krieg, sondern um eine innerukrainische Angelegenheit, gewinnt durch ständige Wiederholung nicht an Richtigkeit. Doch sind die Folgen für die ukrainische Gesellschaft unmittelbar zu spüren. Die Flucht vieler Menschen aus den umkämpften Regionen stellt eine Herausforderung dar, hat aber auch zur starken Mobilisierung ehrenamtlicher Helfer geführt. Politisch erweist sich der faktische Kriegszustand als eine Falle, der nur schwer zu entkommen ist. Er dient als moralische Rechtfertigung und politisches Steuerungsinstrument, behindert die nötigen Reformen im Land und festigt Wirtschaftspraktiken, an denen eine Minderheit verdient, während der Großteil der Bevölkerung die Konsequenzen zu tragen hat. So weisen diverse Beobachter darauf hin, dass ein Motiv für die jüngsten Kampfhandlungen etwaige Verteilungskämpfe unter den Profiteuren der Kriegsökonomie sein könnten.
Es ist immer noch nicht vollständig geklärt, was genau der Auslöser war. Fest steht, dass die ukrainischen Streitkräfte bereits Mitte Dezember damit begannen, ihre Positionen auszuweiten. Die Demarkationslinie zwischen den sogenannten Volksrepubliken und den von der Regierung in Kiew kontrollierten ukrainischen Gebieten zieht sich über eine Länge von etwa 400 Kilometern, wobei zwischen beiden Seiten eine Zone von fünf bis maximal zehn Kilometern liegt, in der sich teilweise ganze Wohnviertel und sogar Ortschaften befinden. So auch Nowoluganske, welches das ukrainische Militär durch seinen Vormarsch nun kontrolliert. Alexander Turtschinow, Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrats, teilte Ende vergangenen Jahres mit, dass die Zentralregierung 2016 erstmals keine Gebietsverluste habe hinnehmen müssen, und kündigte eine schrittweise Ausweitung der eigenen Einflusszone an.
Auch weiter im Norden, an der Grenze zur Lugansker Volksrepublik, kam es im Januar zu heftigen Schusswechseln. Dem Beschuss von Awdijiwka gingen langfristige Vorbereitungen zur Erlangung der Kontrolle über die Verbindungsstraße zwischen Donezk und Gorlowka voraus; sollte das gelingen wäre die Stadt vom Rest der Donezker Volksrepublik praktisch abgeschnitten.
Es gibt eine weitere Erklärung der Eskalation vom 29. Januar in Awdijiwka. Ein bei dem Einsatz ums Leben gekommener junger Offizier soll bei der Einnahme seiner Position auf gegnerische Truppen gestoßen sein. Trotz Artilleriebeschuss habe er anstelle des gebotenen Rückzugs wegen Sperrfeuers durch einen ukrainischen Freiwilligenverband selbst den Angriff angeordnet und damit den Gegner ebenso überrascht als auch die Kiewer Führung. Diese habe sich entschieden, den Vorfall als taktischen Sieg zu verbuchen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
ute weinmann