«Der Sozialismus wurde nicht erreicht

Aleksandr Schubin ist Doktor der Geschichtswissenschaften und einer der führenden Experten für die ­russische Revolution 1917. Zu diesem Thema hat er mehrere Bücher veröffentlicht darunter »Die Große ­Russische Revolution: von Februar bis Oktober 1917«. ­Außerdem koordiniert er die Gruppe »Informational«.

Wen interessiert die Russische ­Revolution vor 100 Jahren? Und weshalb?

Alle gesellschaftspolitischen Kräfte interessieren sich dafür, weil das zur sogenannten Tagesordnung gehört. In Russland ist es üblich, Probleme nicht deshalb anzusprechen, weil sie von Relevanz sind, sondern weil sie auf der Tagesordnung auftauchen. Über das 100jährige Jubiläum diskutieren alle. Wer sich dem entzieht, muss sich die Frage nach dem eigenen politischen Engagement gefallen lassen. Für den Staat stellt dies ein großes Problem dar, denn alle haben verstanden, dass das Revolutionsjubiläum nicht einfach übergangen werden kann. Dabei haben sich zwei Sichtweisen ergeben, die beide präsent sind, von denen aber eine die Oberhand gewonnen hat. Die erste äußert sich in Missbilligung und Brandmarkung, wobei direkte Bezüge zwischen den farbigen Revolutionen, also dem Sturz positiv bewerteter Regime durch die Agenten der fünften Kolonne, und dem Jahr 1917 hergestellt werden. Daraus lassen sich gewisse Schlussfolgerungen ziehen. Die zweite, meiner Ansicht nach wesentlich klügere Interpretation, zieht aus der Revolution die Konsequenz, dass die Massen für ihre Rechte kämpfen müssen. Darum sprach Putin von einem herausragenden Ereignis, bei dem jede der Revolutionsparteien ihre eigene Wahrheit vertreten habe. Im Weiteren solle die Wissenschaft sich damit ausein­andersetzen. Das könnte als erfreuliches Signal für die Bereitstellung zusätzlicher Fördermittel aufgefasst werden, aber dem ist nicht so. Am Ball sind jetzt nicht Akademiker, sondern das Fernsehen.


Aleksandr Schubin (Foto: Ute Weinmann)

Was heißt das für die öffentliche ­Bewertung der Revolution?

Der Staat ist um eine rein historische Einordnung bemüht. Er nimmt dies als Anlass zur Versöhnung, zum gegen­seitigen Verständnis unterschiedlicher Revolutionsparteien und ruft zum friedlichen Miteinander auf. Das wäre kaum angreifbar, wäre die soziale Lage im Land nicht derart angespannt. Aber im Fernsehen dominieren staatstreue Schreihälse, die sowjetische Großmachtambitionen mit den reaktionärsten Wertvorstellungen mischen, die die russische Geschichte seit Iwan dem Großen zu bieten hat. Gemeint ist die Idee einer starken Großmacht, deren Kontinuität von ihren altrussischen Ursprüngen bis zur Sowjetunion reicht. Diese »roten Patrioten« verbreiten ­einen Mythos, wonach das russische Imperium von einem Erfolg zum nächsten eilte, während die Liberalen im Februar 1917 das Land zerlegt haben. Im Oktober führten üble Bolschewiki wie Lenin und Trotzki dieses Werk fort, bis die guten Bolschewiki unter Stalins Führung die Bruchstücke wieder zusammengefügt und das Land neu aufgebaut haben. Und Gagarin hat später den Kosmos erobert.

Die Liberalen wiederum interpretieren den Februar 1917 als Durchbruch zur Freiheit, den die bösen Bolschewiki zunichte gemacht haben. Der reale Verlauf der Ereignisse war natürlich vielschichtiger.

Sind auch linke Positionen präsent?

Linke Sichtweisen, die soziale Probleme als Auslöser und als bestimmend für die weitere Entwicklung der Revolution in den Vordergrund stellen, sind durchaus vertreten. Obwohl es derzeit in Russland kaum nennenswerte linke Oppositionskräfte gibt, gibt es in der Wissenschaft eine einflussreiche linke Strömung. Die Revolution hat soziale Ursachen, auch finden sich heute Parallelen zu 1917: Das Großmachtstreben führte zur Verschlechterung der Lage der Bevölkerung. Das ist revolutions­trächtig, was der Staat offenbar wahrnimmt und weshalb er das 100jährige Jubiläum zu bewältigen sucht, ohne sich der sozialen Thematik anzunehmen. Ernsthafte Historiker wiederum sprechen nur davon, das sehe ich auf wissenschaftlichen Konferenzen. ­Dieses Jubiläum führt zu einer Annäherung der Wissenschaft an linke Themen. Doch hat das keine politischen Auswirkungen, weil das Regime repressiv ist und die linke Opposition unterdrückt. Solange die Massen ruhig bleiben, will niemand in die Bresche springen.

Wladimir Medinskij, der Kultur­minister und Vorsitzende der Russischen militärhistorischen Gesellschaft, verkündete bereits 2015 fünf Thesen, auf die sich die neue »Plattform für eine nationale Versöhnung« stützen soll. Wie wirkt sich das auf die offiziellen Feierlichkeiten aus?

Medinskij dockt an die »roten Patrioten« an. Er sieht eine Kontinuität vom russischen Imperium zum Sowjetregime. Aber in dieser Debatte spielt er keine eigenständige Rolle. Das auf Grundlage der militärhistorischen Gesellschaft geschaffene Organisationskomitee für die Jubiläumsfeierlichkeiten besteht aus einem Haufen Leute aus den Chefetagen. Bekannte Experten für die Revolutionsgeschichte habe ich auf dessen Sitzung, an der ich nur als Beobachter teilgenommen habe, nicht bemerkt. Das ist ein Gerangel um staatliche Fördermittel.

Eine der Thesen Medinskijs lautet, es sei falsch gewesen, sich im innenpolitischen Kampf auf die Hilfe der Alliierten zu verlassen. Das liest sich, als hätte Medinskij mit seiner Kritik weniger die Alliierten im historischen Sinne im Blick als die heutige Situation.

Der Fehler des Zaren bestand darin, Russland in diesen sinnlosen und imperialistischen Krieg zu treiben. Das Imperium wollte seine Grenzen erweitern, nahegelegene Gebiete erobern, das ist ein äußerst aktuelles Thema. Ich bin für eine konsequente Haltung. Wer das Vorgehen der Alliierten kritisiert, muss auch den Bündniseintritt verurteilen und die Großmachtambitionen von Nikolaj II. und seinem Umfeld. Wer denkt, Russland sollte seinen Teil vom Kuchen abbekommen, muss akzeptieren, dass es dafür Bündnispartner benötigte, die immer in ihrem eigenen Interesse agieren. Als sich Russland nach der Revolution aus dem Kriegsgeschehen zurückzog, begann die Intervention durch die Alliierten. Ein Motiv dafür waren riesige Waffenlager, die die Alliierten auf russisches Gebiet verlegt hatten. 1918 schickte die Entente ihre Truppen, damit diese in Murmansk und Wladiwostok befindlichen Lager nicht den Bolschewiki und den Deutschen in die Hände fallen. Deshalb ist es falsch zu behaupten, die Alliierten hätten Russland bei der Kriegsführung nicht unterstützt. Russland hat selbstverständlich mit Rohstoffen, Lebensmitteln und Geld dafür bezahlt, so dass jede Seite ihren Profit daraus gezogen hat. Die Waffenlager gingen dann an die Weißen.

Was bedeutet es, dass derzeit ständig von einer Bedrohung Russlands durch den Westen geredet wird?

Im 20. Jahrhundert gab es eine scharfe Konfrontation mit dem Westen. Heute ist dieser Druck weitaus geringer, als man nach all den Verstößen Russlands gegen internationale Rechtsnormen annehmen könnte. Heute verhält sich der Westen überaus zurückhaltend. Ich bin in Zeiten großer Anspannung aufgewachsen und erinnere mich gut an die amerikanische Intervention in Grenada, den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und Warnungen vor Atomraketen. Jetzt leben wir in einer viel entspannteren Epoche.

Linke im Westen teilen diese Ansicht nicht unbedingt.

Westliche Linke sind sehr unterschiedlich, aber das Hauptproblem der linken Bewegung im Westen besteht darin, dass sie nicht besonders links ist, wenn man bedenkt, dass Linke immer für die Schaffung einer nachkapitalistischen Gesellschaft in absehbarer Zukunft eintraten. Im Westen kann ich keine einflussreichen Verfechter einer Abschaffung des Kapitalismus ausmachen. Als wir gegen das Sowjetsystem gekämpft haben, stellten wir dem einen selbstverwalteten Sozialismus entgegen und wehrten uns gegen den Übergang zum Kapitalismus. Heut­zutage gehören die westlichen Sozialdemokraten, die Labour Party und ­andere zum linken Flügel des Sozial­liberalismus und stehen nicht dafür, den Kapitalismus durch den Sozialismus zu ersetzen. Auf der anderen Seite rufen bei mir Abgeordnete der Partei »Die Linke« Verwunderung hervor, die Putin unterstützen, einen Politiker mit extrem rechten Ansichten, der in Frankreich auf Marine Le Pen setzt. Was hat das mit Linkssein zu tun? Im Westen sehe ich schon lange keinen Kampf mehr für irgendeine Form des Sozialismus.

Zurück zu den historischen Parallelen. Der Staat ruft ständig die Bedrohung durch neue Revolutionen in Erinnerung, durch die sogenannten orangenen Revolutionen.

Den Begriff »orangene Revolution« setze ich grundsätzlich in Anführungszeichen, denn es handelt sich dabei nicht um den Kampf für eine Systemumwandlung und eine prinzipiell neue Gesellschaft. Das ist keine Revo­lution, sondern der Sturz ­eines Regimes. Die Tragödie der Ukraine besteht nicht darin, Janukowitsch gestürzt zu haben, sondern darin, dass danach keine Systemumwandlung er­folgte. Zurück bleiben die Enttäuschung der Massen und nationalistische Hetzerei von beiden Seiten. Russlands aktive Beteiligung hängt damit zusammen, dass eine nationale Konsolidierung von sozialen Problemen ablenkt. In der Ukraine hätte eine Revolution stattfinden können, vorausgesetzt es gäbe ein revolutionäres Projekt.

Überall auf der Welt kocht der Kessel, sogar im Westen, obwohl der Lebensstandard dort höher ist als in Russland. Die Menschen sind mit den sozialen Verhältnissen unzufrieden, aber wissen nicht, was sie dem entgegensetzen sollen. Und die Linke macht keine Zielvorgaben – was ist das dann für eine Linke? Revolutionen entstehen, wenn sich der Lebensstandard verschlechtert und es ein Ziel vor Augen gibt. Heut­zutage gibt es ein riesiges Defizit an linken Ideen. Intellektuelle haben dazu Vorstellungen, aber die Linke scheut sich davor, diese zu verbreiten. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, ­deren Systemcharakter an die Große Depression heranreicht, scheint es ­keinen Ausweg zu geben. Die Menschen protestieren, aber es fehlt ein Projekt für den Wandel. Das Fehlen alternativer Gesellschaftsmodelle ist das bedeutendste Merkmal unserer Zeit.

Was gibt uns der Blick auf die Ereignisse von 1917?

Ein Verständnis für die Bedeutung sozialer Probleme, die über staatlichen Interessen stehen, einen gewissen Erfahrungsschatz hinsichtlich des Versuchs, eine Bewegung für Sozialismus und Demokratie zu schaffen. Wir haben über ideologische Sichtweisen auf die Revolution gesprochen, aber es gibt auch wissenschaftliche. Die Forschung hat große Fortschritte gemacht. Wir nehmen die Große Russische Revolution heute als einheitlichen Prozess wahr, nicht als voneinander getrennte Ereignisse im Februar und Oktober. Es ist eine Aneinanderreihung vieler aufeinanderfolgender Etappen. Die Februarrevolution ist die erste Etappe, danach hat sich die Revolution verschärft, die Oktoberrevolution öffnete die Tore für einen radikalen sozialen Wandel. Diese Erfahrung ist auch heute von Bedeutung. Es wurden nicht we­nige fundamentale Fehler begangen, der Sozialismus wurde letztlich nicht erreicht, denn das stalinistische System stufe ich nicht als Sozialismus ein. Aber die Analyse von Fehlern und Errungenschaften der Revolution erlaubt es uns zu verstehen, wie wir irgendwann den Sozialismus doch noch errichten.

ute weinmann

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