Welche Rolle Juden in der politischen Lage des Landes spielen
Wer über eine Suchmaschine auf Russisch die Wörter »Juden in der russischen Opposition« eingibt, stößt unweigerlich auf Aussagen und Behauptungen, die mehr Fragen aufwerfen als Antworten liefern. Wahlweise stellen Juden demnach einen überproportionalen Anteil in den oppositionellen Bewegungen Russlands oder dominieren diese sogar.
Weder Zahlen noch Statistiken braucht es als Nachweis. In so mancher vom Geist der Aufklärung unberührten Darstellung gerät jeder ungewollt zum Juden, der sich als Zielscheibe für Diffamierungen eignet, denn diese Form der negativen Zuschreibung ist so eindeutig, dass sie keine Steigerung mehr zulässt.
Dmitri Bykow, russischer Schriftsteller und Publizist jüdischer Herkunft, hielt während der letzten großen Protestwelle 2012 fest: »In Russland existierte immer eine fünfte Kolonne. Nämlich die russische Intelligenz und die jüdische Intelligenz. Letztere lenkt, erstere lässt sich lenken.« Seine beißende Ironie halten manche für die Wahrheit.
Am 26. März, als russlandweit mehr als 60.000 Menschen gegen Korruption auf die Straße gingen und es allein in Moskau zu über 1000 Festnahmen kam, fiel der Startschuss zu erneuten Massenprotesten. Das Leitthema der nur teilweise genehmigten Kundgebungen empört in Russland viele Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten.
Wer offen gegen Korruption eintritt, muss allerdings längst nicht zwingend Anhänger des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny sein, der zu den Protesten aufgerufen hatte. Asmik Nowikowas Urteil über ihn fällt äußerst kritisch aus, trotz ihrer Teilnahme an Nawalnys Moskauer Aktion. »Er ist eine starke Führungsfigur, aber kaum gebildet«, sagt die Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation. »Er erlaubt sich Dinge, die gefährlich und in ihren Ausmaßen unkalkulierbar sind, zudem teils auf Rassismus basieren. Und er unterstützt Gewalt praktizierende Gruppierungen.«
Dazu gehört auch der jährlich stattfindende, von diversen Akteuren der extremen Rechten organisierte sogenannte Russische Marsch. Juden, so findet sie, müssten eine eindeutig ablehnende Haltung dazu einnehmen. Was unter der russischen Opposition generell zu verstehen sei, ist ihr schleierhaft. »Es existiert keine klar umrissene Gruppe, die ich eindeutig der Opposition zurechnen kann.«
Tatsächlich wird der Oppositionsbegriff in Russland oft über jedes Maß hinaus strapaziert. Als »neue Opposition« bezeichnet sich seit geraumer Zeit beispielsweise eine Gruppierung der extremen Rechten, die auch am 26. März präsent war.
Asmik Nowikowas kritische Einschätzung stößt bei oppositionellen russischen Juden allerdings nicht auf ungeteilte Zustimmung. So fanden die Veranstalter des »Russischen Marschs« im vergangenen November in Mark Galperin einen treuen Bündnispartner. Galperin, bekannt vor allem, weil er mehrmals bei regierungskritischen Protestaktionen festgenommen wurde, kennt keinerlei politische Berührungsängste, Hauptsache, es findet sich ein gemeinsamer Gegner. Zusammen mit nationalistischen Politikern und Aktivisten organisiert er regelmäßig Spaziergänge der »neuen Opposition« anstelle von Demonstrationen, die in Moskau wenig Aussicht auf eine behördliche Genehmigung haben.
Alexander Engels, Direktor des jüdischen Museums und des Holocaustmuseums in Moskau, zeichnet ein differenziertes Bild. Unter Oppositionellen, die für eine strenge Einhaltung der Verfassung, für bürgerliche Freiheiten sowie dafür plädieren, dass man eine Regierung auch wieder abwählen kann, fänden sich viele Menschen mit jüdischen Nachnamen.
Aber das Gleiche gelte ebenso für die Stützen der Regierung. »Insofern halte ich jegliche Versuche, der Opposition ein ›jüdisches Gesicht‹ zu verpassen, für Spekulation«, sagt Engels. Keine einzige jüdische Organisation würde sich in Russland jemals in politische Belange einmischen, aber jeder Jude müsse als Staatsbürger Position beziehen.
Ihm persönlich sind die Forderungen der Opposition zur Einhaltung grundlegender demokratischer Freiheiten ein großes Anliegen. »Ich unterstütze sie als Bürger, nicht als Jude.« Dann fügt er hinzu: »Aber auf Verletzungen dieser Freiheiten reagiere ich sensibler und wohl eher als Jude.«
Jüdische Gemeinden üben sich hinsichtlich politischer Äußerungen in Zurückhaltung und gehen auf Distanz zur russischen Opposition. Dafür gibt es gute Gründe. Vertreter jüdischer Einrichtungen führen als einen der wichtigsten Punkte ihre Loyalität zum Kreml an. Die russische Führung sei frei von Antisemitismus, heißt es. Zalman Yoffe, Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Wolgograd, betont, dass in Russland seit Jahren alles in allem günstige politische Verhältnisse herrschen, die es Menschen jeglicher Nationalität oder Religionszugehörigkeit erlaubten, sich einigermaßen sicher zu fühlen. Das gelte sowohl hinsichtlich der Haltung staatlicher Stellen als auch seitens der Gesellschaft.
Gleichzeitig weist Yoffe auf eine breite Meinungsvielfalt unter russischen Juden hin. »Als Staatsbürger Russlands kann sich jeder gestützt auf die Verfassung eine eigene Meinung bilden und die Ereignisse demgemäß beurteilen.« Die einen seien für die Opposition, die anderen dagegen. »Aber die Mehrheit«, so Yoffe, »ist kaum politisiert und mit ihren alltäglichen Problemen beschäftigt.«
Marina Smolina aus St. Petersburg ist Teil dieser Mehrheit. Sie geht hin und wieder zu Veranstaltungen der dortigen Gemeinde und bezeichnet sich selbst als apolitisch. »Juden verhalten sich zu einer Frage häufig so, dass sie überlegen, welchen Bezug sie zur jüdischen Gemeinde hat«, sagt sie. Politik habe außerdem nichts mit der Nationalität zu tun, solange sie nicht antisemitisch geprägt sei. Und eine politische Haltung einzunehmen, habe wiederum nichts damit zu tun, ob jemand Jude sei.
Smolinas Skepsis hinsichtlich Nawalnys jüngsten Protestaktionen basiert schlichtweg auf Misstrauen. »Ich vertraue unserer Opposition nicht«, lautet ihre kategorische Einschätzung. »Korrupt ist sowohl unsere Staatsmacht als auch die Opposition.«
ute weinmann