Eigentlich erinnert der «Tag der Freiheit» in Belarus an den Beginn einer kurzen Periode der Unabhängigkeit des Landes nach der russischen Revolution vor mittlerweile 99 Jahren. Der 25. März ist kein offizieller Feiertag, sondern wird von der belorussischen Opposition traditionell mit einer Demonstration begangen, an der sich zuletzt oft nur noch knapp über 1000 Menschen beteiligten. In diesem Jahr allerdings hatte sich das Ereignis um eine soziale Komponente erweitert, was in der Hauptstadt Minsk trotz behördlichen Verbots zu einer spürbar angewachsenen Mobilisierung führte. Andernorts fanden genehmigte Demonstrationen indes mit recht geringer Teilnahme statt. Im Vorfeld kam es im oppositionellen Lager zu über 300 präventiven Festnahmen mit anschließenden Urteil von bis zu 15 Tagen Haft. Wegen Vorbereitung von Massenunruhen nahm der Geheimdienst KGB außerdem 26 Personen fest, die vor allem dem nationalistischen Lager angehören.
Mehrere tausend Protestwillige fanden sich dennoch am 25. März im Stadtzentrum von Minsk ein. Die im Umgang mit von behördlicher Seite als illegal abgestempelten Kundgebungen erfahrene Polizeisondereinheit OMON sperrte einen Teil der Innenstadt ab, trieb vorsorglich Keile in die Menge und riss gezielt einzelne Gruppen auseinander. Busse zum Abtransport Festgenommener standen vorsorglich in ausreichender Zahl bereit. Augenzeugen teilten mit, dass bei dem Versuch Transparente auszurollen Uniformierte sofort eingriffen. Teils zerrten sie sogar Passagiere direkt aus einem Bus. Über 700 Menschen wurden festgenommen, darunter auch eine ganze Reihe Journalisten mit Presseausweisen. Einigen hundert Protestierenden gelang es einen Demonstrationszug auf dem Bürgersteig einer der Hauptstraßen zu formieren, worauf hin OMON-Angehörige mit Schlagstöcken auf die Versammelten losgingen.
Mitte Februar hatte die neue Protestsaison in Belarus noch friedlich begonnen. Nach Ablauf einer Gnadenfrist waren über 400 000 Personen aufgefordert eine Steuer abzuführen, die die belorussische Führung 2015 per Dekret zur »Vorbeugung des Sozialschmarotzertums« im Jahr 2015 beschlossen hatte. Betroffen sind jene, die keiner regulären lohnsteuerpflichtigen Arbeit nachgehen. Nach Jahren der Zurückhaltung platzte bei vielen Menschen die Geduld, zumal Arbeitsplätze mit einem das Überleben sichernden Lohn rar gesät sind. Erste Protestkundgebungen verliefen ohne Zwischenfälle, die Polizei mischte sich in das Geschehen anfangs nicht ein. Mitte März verordnete die Staatsmacht dann ein rigoroseres Vorgehen gegen aufmüpfige Bürger und das Verfassungsgericht verkündete, das auch von Fachleuten kritisierte Dekret widerspreche keineswegs Recht und Gesetz. Doch das Aufbegehren Tausender im Land schien auf den belorussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko Eindruck gemacht zu haben. Die Zahlungsverpflichtung ließ er zwar nicht aufheben, aber immerhin bis auf Weiteres verschieben.
In einer vom Arbeitsministerium ausgearbeiteten Neufassung des Dekrets finden sich nun gewisse Einschränkungen in Bezug auf bestimmte Personengruppen. Ohne Abstimmung mit den lokalen Behörden dürfen in staatlichen Unternehmen auch keine Entlassungen mehr vorgenommen werden, selbst wenn es durch Kosteneinsparungen gelänge, das in letzter Zeit abgesunkene Lohnniveau anzuheben. Wer nicht in einem von staatlicher Seite leicht zu kontrollierenden Beschäftigungsverhältnis steht rutscht offenbar unweigerlich in eine potenziell subversive Kategorie, die dem belorussischen Staat zusätzliche Wachsamkeit abverlangt. Im Gebiet Mogiljew suchen die Behörden nun systematisch nach Arbeitslosen, um ihnen bis zum 1. Mai einen festen Arbeitsplatz zu vermitteln. Die «Schmarotzer-Abgabe» hat jedoch auch die rein funktionelle Aufgabe, den Geldfluss in die arg strapazierte Staatskasse zu stimulieren. Im benachbarten Russland wurden ähnliche Pläne zwar diskutiert, aber vorerst auf Eis gelegt. Dort nehmen soziale Konflikte ohnehin seit geraumer Zeit zu, bis hin zu offenem Protest.
Wo trotz mannigfaltiger Kürzungen im russischen Bildungs- und Gesundheitswesen die dort Beschäftigen bislang nur selten auf der Straße ihren Anliegen Gehör verschaffen, greift die Belegschaft in Betrieben mit eklatanten Lohnrückständen durchaus immer wieder zu Protestmaßnahmen. Eine Berufsgruppe sticht besonders hervor, nämlich die Fernfahrer, ohne die eine Versorgung des riesigen Landes schlichtweg undenkbar wäre. Nur etwa ein Viertel der russischen Unternehmen im Logistikbereich zählt zu den Großen in der Branche, alle anderen arbeiten als Selbständige oder Kleinunternehmer, die durch die Wirtschaftskrise und EU-Sanktionen bzw. russische Gegensanktionen und den damit verbundenen verringerten Warenverkehr herbe Verluste hinnehmen müssen. Aus dieser Gruppe formierte sich im vergangenen Jahr neben kleineren Gewerkschaftsinitiativen auch die Vereinigung der russischen Transportunternehmen, kurz OPR, mit mittlerweile über 10 000 Mitgliedern, darunter sowohl Unternehmer als auch abhängig beschäftigte Fahrer.
Die OPR hat maßgeblich dazu beigetragen, den im November 2015 ausgebrochenen Protest von Truckern gegen ein neues Mautsystem für Schwerlaster ab 12 Tonnen zu forcieren und ab dem 27. März zum landesweiten Streik aufgerufen. Ihre Forderung besteht in erster Linie in der Abschaffung des Mautsystems «Platon», von dem zu ihrem Ärger hauptsächlich Vertraute von Präsident Wladimir Putin profitieren. Den lukrativen Zuschlag für das Akquirieren der Gebühr mit einem jährlichen festen Einkommenssatz von 180 Millionen Euro erhielt die Firma von Igor Rotenberg, Sohn von Arkadij Rotenberg. Darüber hinaus soll mindestens die gleiche Summe in die Staatskasse fließen. Die Trucker wehren sich jedoch auch generell gegen die Zustände in ihrer Branche, gegen willkürliche Kontrollen durch die Verkehrspolizei verbunden mit der Notwendigkeit, Strafen und Schmiergelder zu zahlen. Und sie wollen sich die Freiheit bewahren, nicht für Großunternehmen zu arbeiten.
Dem Streikaufruf sind Trucker im ganzen Land gefolgt. Teils stehen LKW’s am Straßenrand, viele haben sie seither ihre Stellplätzen nicht verlassen. Mancherorts finden Kundgebungen in den Städten statt, um auf die Aktion aufmerksam zu machen. Die größte Beteiligung ist in der nordrussischen Kaukasusrepublik Dagestan zu verzeichnen, wo sich nach Angaben der dortigen Aktivisten alle Fahrer dem Streik angeschlossen haben. Bei Manas stehen etwa 1000 Trucks an der Straße, die Polizei wiederum sorgt durch weitläufige Absperrungen dafür, dass es nicht mehr werden. Zwischenzeitlich postierte sich die Nationalgarde rund um ein Protestlager, zog sich aber zurück, nachdem die lokalen Behörden grundsätzliche Gesprächsbereitschaft signalisiert hatten.
Landesweit soll der Güterverkehr so weit als möglich lahmgelegt werden, nur so rechnen die Trucker damit, die Regierung an den Verhandlungstisch zu bekommen. Dafür werden sie einen langen Atem benötigen. Premierminister Dmitrij Medwedjew versuchte wenige Tage vor Streikbeginn vergeblich der in ihren Ausmaßen lange nicht mehr dagewesenen Aktion Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er Vertreter von Fahrervereinigungen zu einem Treffen einlud, die gar nicht zum Streik aufgerufen hatten. Als Ergebnis präsentierte er eine geringere als geplante Erhöhung der Mautgebühr zu Mitte April.
Die übliche Diffamierungstaktik gegen «Sozialschmarotzer» wie in Belarus, oder gegen fremdgesteuerte und durch das US-Statedepartment finanzierte Marionetten greift bei den Truckern nicht, wenngleich auch solche Gerüchte gestreut werden. Sie arbeiten hart, erhalten Zustimmung für ihre Aktion in der Bevölkerung trotz Informationsblockade durch die staatlichen überregionalen Medien und sie sind bereit, hohe Risiken einzugehen, denn letztlich geht es in ihrem Kampf für viele Beteiligte um ihre Existenz. Repressionen bleiben dennoch nicht aus. Einzelne Schlüsselpersonen der Bewegung etwa in St. Petersburg oder Irkutsk wurden zwischenzeitlich verhaftet, auch den Koordinator aus Dagestan führte die Moskauer Kriminalpolizei nach einer Pressekonferenz ab. Aber damit lassen sich die Fahrer nicht einschüchtern.
Der Kreml hat sich ein ernsthaftes Problem eingehandelt, das er durch Hinhalten der Beteiligten versucht auszusitzen. Ganz anders ergeht es denjenigen, die dem Aufruf des nationalistischen Oppositionspolitikers Aleksej Nawalnyj gefolgt und am 26. März in vielen russischen Städten gegen Korruption auf die Straße gegangen waren. Sie erhielten wenige Tage lang die volle Aufmerksamkeit der Medien und der politischen Führung. Provokateure seien sie, ließen sich von Nawalnyjs Stab missbrauchen, als ob wer sich seiner per Gesetz zugesicherten Rechte bedient automatisch seine individuelle Kritikfähigkeit einbüsst. Dem voraus ging eine clevere Mobilisierungskampagne im Netz mit einem Video über die Reichtümer des sonst in Eigentumsfragen gerne vernachlässigten Dmitrij Medwedjew, das über 15 Millionen Menschen anschauten.
Vielerorts fanden genehmigte Kundgebungen statt, nicht so in Moskau. Dort kam die Nationalgarde zum Einsatz und nahm über 1000 Menschen fest; nicht ganz so brutal wie ihre Kollegen im westlichen Bruderland, aber mit einer Besonderheit: Noch nie in der jüngeren Geschichte wurden so viele minderjährige Demonstranten in Polizeigewahrsam genommen. Diese bislang vernachlässigte Bevölkerungsgruppe gerät nun nicht nur ins Visier des Sicherheitsapparats, sondern muss sich auf intensive Erziehungsmaßnahmen einstellen, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen.
Sowohl Lukaschenko, als auch der russische Präsident Wladimir Putin sitzen fest im Sattel und wollen ihr Amt auch in absehbarer Zukunft nicht abgeben. Angesichts knapper werdender Ressourcen lässt sich das Stillschweigen der Bevölkerung in beiden Ländern allerdings nicht mehr ohne Einsatz repressiver Mittel erkaufen. Unabhängig vom Hintergrund der Tat hatte es etwas Symbolisches, dass ausgerechnet unmittelbar vor einem Treffen der beiden unanfechtbaren Landesfürsten in St. Petersburg ein Sprengsatz in der dortigen Metro explodierte und vierzehn Menschen tötete.
ak