Schon seit 1917 gibt es die Mär vom »jüdischen Bolschewismus« – mit der Realität hat sie wenig zu tun
Vor mittlerweile einem ganzen Jahrhundert nahm mit der Oktoberrevolution ein Experiment seinen Anfang, welches das 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat. Genauso alt ist die Mär vom »jüdischen Bolschewismus«, die in immer neuer Auflage Eingang in altbekannte Verschwörungstheorien hält. Russische Revolution und Juden verschmelzen darin zu einem Synonym, ganz als ob es nie eine Geschichtsforschung gegeben hätte, die ein differenziertes Bild von der Rolle der Juden in den revolutionären Bewegungen zeichnet und mit weit verbreiteten diffamierenden Klischees aufräumt.
Juden hatten neben ihrer überwiegend desolaten sozialökonomischen Lage viele gute Gründe, sich dem revolutionären Kampf anzuschließen: Sie unterlagen zahlreichen diskriminierenden gesetzlichen Beschränkungen, und Pogrome kosteten viele Menschen das Leben. Sozialistische Parteien übten allein schon wegen ihrer internationalistischen Orientierung eine große Attraktivität aus.
Der Erste Weltkrieg verschärfte ihre Situation, dennoch hatte der Sturz des Zarenregimes im Februar 1917, der die Juden endlich zu gleichberechtigten Staatsbürgern machte, mit der viel zitierten jüdischen Frage nicht das Geringste zu tun. Die miserable Versorgungslage wurde zum Auslöser für Streiks und Proteste. Soldaten der russischen Armee desertierten schließlich massenweise, und wenn es überhaupt eine Art von Verschwörung gegeben hat, so der Historiker Oleg Budnitskij, dann die Weigerung der Heeresführung, dem Zaren als militärischem Oberkommandierenden weiter zu dienen.
Zwar dauerte es seine Zeit, bis führende Revolutionäre, darunter viele jüdischer Abstammung, ihren Weg aus der Emigration zurück nach Russland fanden, aber danach spielten Juden im öffentlichen politischen Leben tatsächlich eine sichtbare Rolle. Budnitskij schätzt ihre Zahl auf etwa ein Zehntel von insgesamt 3000 Personen – aus allen politischen Lagern. Basierend auf einer repräsentativen Auswahl an Biografien kommt er zu dem Schluss, dass von 43 führenden Personen der politischen Arena sich nur 16, die einen jüdischen Hintergrund hatten, aktiv an der Oktoberrevolution beteiligt hatten.
Leo Trotzki, einer der charismatischsten Redner und seit September 1917 Vorsitzender des Petrograder Sowjets, dürfte wohl der bekannteste von ihnen sein. Dabei thematisiert er in seiner Autobiografie mit keinem Wort seine jüdische Herkunft. In seinen Augen besaß das schlichtweg keine Relevanz. Damit stand er in den Reihen seiner Genossen nicht allein. Letztlich spielte jedoch weniger die Frage eine Rolle, wie viele Juden tatsächlich die Revolution vorantrieben, als deren Wahrnehmung durch die Mehrheitsbevölkerung. Lang hielt die Freude über die neu gewonnenen politischen Freiheiten nach den Februarereignissen nicht an. Der Krieg ging weiter, Hunger bestimmte den Alltag, und die allgemeine Lage verschlechterte sich zusehends.
Forderungen nach Arbeiterräten wurden immer lauter. Sie erhielten ihren vorläufigen Höhepunkt während des Juli-Aufstandes, als ein Teil der Bolschewiki nach spontanen Streikaktionen von Frontsoldaten, Petrograder Arbeitern und Kronstädter Matrosen einen ersten Versuch zur Absetzung der Übergangsregierung unternahm.
Im Anschluss folgte eine regelrechte Hasskampagne gegen die Bolschewiki – mit antisemitischen Untertönen. Durch die gezielte Veröffentlichung einer Namensliste von Verhafteten, die einen deutschen oder jüdischen Hintergrund vermuten ließen, machte sich die politische Führung vorherrschende Feindbilder zunutze.
Sowohl einige Kreise der gebildeten Schichten als auch weite Teile der unterprivilegierten Massen richteten ihr Augenmerk bei der Suche nach den Verantwortlichen für die sich nach der Februarrevolution verschärfende Misere selektiv auf den Umstand, dass sich unter den herausragenden politischen Figuren jener Zeit Juden befanden. Unter den Rednern fielen viele durch ihr Talent auf.
Dies machte sich insbesondere bei der Einschätzung der Partei der Bolschewiki bemerkbar, der am Vorabend der Oktoberrevolution nicht mehr als fünf Prozent Juden angehörten. In der Parteiführung sah dieses Verhältnis allerdings anders aus. Zu Lenins Lebzeiten stellten Juden einen deutlich sichtbaren Anteil in der Führung der Russischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki. Auf dem 6. Parteitag im Juli 1917 wurden 23 Mitglieder ins Zentralkomitee gewählt, darunter sieben Juden. Ähnlich stellte sich die Situation bei den linken Sozialrevolutionären dar, die anfangs die Linie der Bolschewiki unterstützten.
Bei dem für die folgenden Jahrzehnte richtungsweisenden geschlossenen Plenum am 10. Oktober 1917 sprachen sich in kleiner Runde ausgerechnet zwei der die Revolution verkörpernden führenden jüdischen bolschewistischen Kader gegen einen aus ihrer Perspektive verfrühten Umsturz aus: Lew Kamenew und Grigori Sinowjew. Durchsetzen gegen ihre innerparteilichen Kontrahenten, allen voran Trotzki, der den bewaffneten Aufstand federführend organisierte, konnten sie sich damit nicht.
Von außen betrachtet war es ohnehin unwichtig, wer im bolschewistischen Zentralkomitee welche Ansichten hegte. Auch der Umstand, dass in der noch im Oktober bestimmten neuen sowjetischen Regierung, dem Rat der Volkskommissare, mit Trotzki nur ein einziger Jude vertreten war, hinderte notorische Antisemiten nicht an der Behauptung, Juden hätten die Macht in Russland übernommen. Ganz hartgesottene unter ihnen dichteten selbst Josef Stalin jüdische Wurzeln an.
Vermutlich hätte allein die Figur Trotzkis genügt, um antisemitischen Argumentationsmustern Vorschub zu leisten, so wie Gesja Gelfmans Beteiligung am tödlichen Anschlag auf Zar Alexander II. im Jahr 1881 Antisemiten als willkommener Anlass für ihre Propaganda diente. De facto wurde Juden bereits die Schuld an der Revolution und ihren Folgen zugeschrieben, als der Oktoberumsturz noch gar nicht stattgefunden hatte.
Die Grundlagen dafür bot die von antisemitischen Einstellungen durchwachsene russische Literatur sowohl des 19. Jahrhunderts als auch die Hetze rechter Politiker und zeitgenössischer namhafter Publizisten, die die Teilnahme von Juden an der Russischen Revolution skrupellos für ihre Zwecke uminterpretierten. Dazu zählen führende Vertreter der intellektuellen Elite wie Alexander Blok oder Wassili Rosanow.
Auch trug die russische Führung in den Jahren vor der Revolution ihren Teil dazu bei, Antisemitismus Legitimität zu verschaffen. Während des Ersten Weltkriegs standen Juden unter Generalverdacht, mit Deutschland zu sympathisieren. Das brachte zahlreiche Denunzianten auf den Plan, deren Fantasie kaum Grenzen kannte. So sollen Eilnachrichten an den Feind in Hühnereiern besonders wertvoller Sorten versteckt worden sein. Juden im litauischen Siauliai wurden gar beschuldigt, Vieh und Menschen durch einen eigens dafür gegrabenen Tunnel nach Deutschland zu schmuggeln.
Nach den verheerenden Niederlagen der russischen Armee im Frühjahr 1915 scheuten sich Militärs nicht davor, eigenes Versagen der jüdischen Bevölkerung in die Schuhe zu schieben. Im Amtsanzeiger des Stabes der Nordwestfront etwa findet sich eine Nachricht, wonach die jüdischen Bewohner eines Dorfes deutsche Soldaten in ihren Kellern versteckt haben sollen, was der russischen Seite herbe Verluste eingebracht habe. Eine Untersuchung zweier Duma-Abgeordneter ergab indes, dass im genannten Dorf gar keine Keller existierten. Als vermeintliche potenzielle Kollaborateure wurden nicht weniger als 200.000 jüdische Bewohner der frontnahen Siedlungsgebiete gen Osten verschleppt. Und wie zuvor auch fanden wieder zahlreiche Pogrome statt.
In der russischen Emigration, die gleichzeitig auch eine russisch-jüdische war, erhielten ideologisch gefärbte Spekulationen über den vermeintlichen »jüdischen Bolschewismus« weitere Nahrung. Insbesondere im Nachkriegsdeutschland fielen sie auf fruchtbaren Boden. Denn auch hier lieferten eifrige antisemitische Propagandisten angesichts der gesellschaftlichen Misere nach November 1918 jenseits von Fakten und Aufklärung stehende schlagkräftige Antworten. Mit verheerenden Folgen.
Als vermeintliche Beweise für eine »jüdische Weltverschwörung«, von nun an mit bolschewistischer Konnotation, mussten die im Stil eines denunzierenden Pamphlets gehaltenen sogenannten Protokolle der Weisen von Zion herhalten. Die von einem Agenten des zaristischen Geheimdienstes verfasste antisemitische Textsammlung fand nach Kriegsende in deutscher Übersetzung eine breite Leserschaft, im angelsächsischen Raum sorgte der Automobilhersteller Henry Ford für deren massenhafte Verbreitung.
Bereits 1919 setzte in den USA, wo viele jüdische Anhänger kommunistischer Ideen nach der Revolution eine Zuflucht gefunden hatten, auf Initiative des Generalstaatsanwalts Mitchell Palmer eine regelrechte Verfolgungsjagd auf Kommunisten ein. Juden wurden als besonders anfällig für radikale Weltanschauungen eingestuft, und Ford lieferte mit seinem Buch Der internationale Jude und der von ihm erworbenen Zeitung »Dearborn Independent« die passende Untermalung zu der von ihm so vehement angeprangerten »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung«.
1927 entschuldigte er sich zwar öffentlich für seine antisemitischen Publikationen, an seinem Weltbild schien sich indes nichts verändert zu haben. Zumal er genügend Nachahmer fand, die alles dafür taten, um ihr antisemitisches Bedrohungsszenario weiterhin in vielen Köpfen herumspuken zu lassen.
ute weinmann
Zur Beteiligung von Juden an der russischen Revolution (Die, nebenbei bemerkt, russische Revolution nicht nur deshalb heißt, weil sie in Russland stattgefunden hat, sondern weil sie überwiegend durch Russen getragen wurde. Wen wundert’s, stellten und stellen Russen doch den größten Anteil an der Bevölkerung im Land):
Anfänglich beteiligten sich an der russischen Befreiungsbewegung gegen die zaristische Despotie gar keine Juden. Das änderte sich zwar allmählich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg ihr Anteil zu einer relevanten Größe an. Unter den wegen politischer Vergehen Festgenommenen machten Juden damals etwa ein Drittel aus, der Partei der Sozialrevolutionäre gehörten 15 Prozent Juden an. Zum Vergleich: Die erste landesweite Volkszählung 1897 ermittelte einen jüdischen Bevölkerungsanteil von vier Prozent, durch die nachfolgenden Emigrationswellen nahm die Zahl leicht ab. Zu den Zentren der sozialistischen Bewegungen gehörten Städte im Westen des Landes wie Minsk, in denen aufgrund der strengen einschränkenden Niederlassungsgesetze viele Juden lebten. In der russischen Regierung reifte 1906 sogar die Idee heran, diese aufzuheben, aber Zar Nikolaj II lehnte ab.
Juden besaßen neben ihrer überwiegend desolaten sozialökonomischen Lage also weitere gute Gründe sich dem revolutionären Kampf anzuschließen: Sie unterlagen zahlreichen diskriminierenden gesetzlichen Beschränkungen und Pogrome kosteten vielen Menschen das Leben. Sozialistische Parteien übten allein schon wegen ihrer internationalistischen Orientierung eine große Attraktivität aus. Der 1. Weltkrieg verschärfte ihre Situation, dennoch hatte der Sturz des Zarenregimes im Februar 1917, der die Juden endlich zu gleichberechtigten Staatsbürgern machte, mit der vielzitierten jüdischen Frage nicht das Geringste zu tun. Die miserable Versorgungslage wurde zum Auslöser für Streiks und Proteste. Soldaten der russischen Armee desertierten schließlich massenweise und wenn es überhaupt eine Art von Verschwörung gegeben hat, so der Historiker Oleg Budnitskij, dann die Weigerung der Heeresführung dem Zaren als militärischem Oberkommandierenden weiter zu dienen.
Nach der Februarrevolution entfalteten jüdische Organisationen und Parteien rege Aktivitäten. Studierende und Frauen schlossen sich zusammen, es entstanden neue Jugendverbände, religiöse Organisationen und sogar bewaffnete jüdische Selbstverteidigungsbrigaden. Die zionistische Bewegung wie auch jüdische sozialistische Parteien erhielten neuen Aufschwung. Bereits im April organisierte der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund, kurz Bund, einen Kongress mit Teilnehmenden aus dem ganzen Land, die Zionistische Sozialistische Arbeiterpartei bildete mit der Jüdischen Sozialistischen Arbeiterpartei eine neue vereinigte Partei. Es galt den neuen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen und sich entsprechend umzuorientieren. Zumal sich mit den nun gewonnenen Freiheiten in diesem Umfeld auch die Frage nach einer jüdischen Identität und nationaler Selbstbestimmung stellte. Doch hinkten die Debatten den blitzartigen Umbrüchen hinterher. Ein für Januar 1918 anberaumter Kongress kam letztlich nicht mehr zustande.
Gemein ist den genannten Gruppierungen, dass ihre Mitglieder der Oktoberrevolution von Anfang an skeptisch gegenüber standen oder sie schlichtweg ablehnten. Auch die jüdische Presse verurteilte den Umsturz größtenteils und während des folgenden Bürgerkriegs beteiligten sich nicht wenige Juden an den Kämpfen auf Seiten der weißen Armeeverbände. Selbst unter den jüdischen Revolutionären fanden sich insgesamt weitaus mehr Gegner der Bolschewiki als ihre Anhänger, was in der Folge etliche von ihnen in die Emigration drängte. Andere wiederum kamen im Bürgerkrieg ums Leben oder endeten in Stalins Lagern.
In den 1890er Jahren stellte der Bund die zahlenmäßig stärkste Vertretung jüdischer Sozialisten im Zarenreich dar und zeitweilig vereinigte er später bis zu 34 000 Mitglieder. Ende des Jahres 1917 wuchs die Mitgliederzahl gar auf bis zu 40 000 an. Zu seinem Programm gehörte neben sozialen Forderungen ursprünglich auch die gesetzliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung. Mit der russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hatte sich der Bund in der Frage nach einem Alleinanspruch auf die Vertretung des jüdischen Proletariats bereits 1903 überworfen und infolge immer wieder Positionen der Bolschewiki unterstützt. Aber kurz nach der ersten russischen Revolution 1905, also nach dem Ende der vorübergehenden Aufbruchstimmung, schloss er sich der Sozialdemokratischen Partei an und stand im Weiteren für die Linie der Menschewiki ein. Demnach verwundert es nicht, dass die Nachricht vom Sturm des Winterpalais am 25. Oktober 1917 bei der Führung des Bundes heftigen Protest auslöste.