Von der Oktoberrevolution will die russische Regierung auch im Jubiläumsjahr nichts wissen. Die russische Gedenkpolitik soll stattdessen eine staatliche Leitkultur konservativ-patriotischer Prägung durchsetzen.
Altlasten können auch nach 100 Jahren noch Kopfzerbrechen bereiten, insbesondere wenn sie nicht materieller Natur sind. Doch im Jubiläumsjahr lässt sich ein weltbewegendes historisches Ereignis wie die Oktoberrevolution auch in Russland nicht ganz ignorieren. Tatsächlich finden zuhauf Veranstaltungen statt, die sich mit dem Ablauf und den Auswirkungen der »großen russischen Revolution« auseinandersetzen und die auf eine große Resonanz treffen. Zugleich fällt die Zurückhaltung der politischen Führung in den vergangenen Monaten auf, die die von Staats wegen zulässige Interpretation anderen überlässt, statt sich richtungsweisend zu äußern. Das beflügelt die Neugier, denn wo sich alle Macht im Kreml konzentriert, der in praktisch allen wichtigen Fragen klare Vorgaben formuliert, scheint es nicht unwesentlich, welche Sichtweise Wladimir Putin vertritt. Schließlich wird ihm gern eine positive Bezugnahme auf das Erbe der Bolschewiki nachgesagt.
Aus dem offiziellen Geschichtsnarrativ entfernt
Im postsowjetischen Russland wurde die Oktoberrevolution aus dem offiziellen Geschichtsnarrativ entsorgt und durch den Sieg über Nazideutschland als zentrales identitätsstiftendes Ereignis ersetzt. Das einst mit einigem Aufwand aufrechterhaltene positiv besetzte Bild der glorreichen Revolution zerfiel in Einzelversionen. Plötzlich war die Rede von einer nationalen Katastrophe oder vom Genozid am russischen Volk, während die Kommunistische Partei KPRF den sowjetischen Traditionen treu blieb. Was in den neunziger Jahren seinen Anfang nahm, setzte sich unter Putin fort. Im Jahr 2005 verlor der 7. November, der längst umbenannte Jahrestag der Revolution, seinen Status als Feiertag. Damit entledigte sich die Regierung eines Datums, das den Kommunisten regelmäßig Anlass bot, ihre Ziele in Erinnerung zu rufen. Die Abschaffung war außerdem die nationalistisch aufgeladene Antwort auf die sogenannte Orangene Revolution in der Ukraine. Gefeiert werden darf seither am 4. November, dem »Tag der Volkseinheit«.
Allein schon der Begriff Revolution wirkt anrüchig in Zeiten, in denen die zum Ritual geratene Beschwörung politischer Stabilität unter Putin durch eine krisenhafte Realität konterkariert wird. Pünktlich zum 90jährigen Revolutionsjubiläum, also noch in Vorkrisenzeiten, entbrannte eine Diskussion über einen Text von Alexander Solschenizyn aus den achtziger Jahren, in dem der konservative Schriftsteller seine Überlegungen zur Februarrevolution dargelegt hatte. Die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta druckte ihn ab, was die darin zum Ausdruck gebrachten Ansichten durchaus als offizielle Stellungnahme erscheinen ließ. Die Februarereignisse hatten in der russischen Geschichtspolitik immer ein Schattendasein geführt, boten sich damals aber für eine willkommene Akzentverschiebung an. Schuld am Sturz des Zaren, schrieb Solschenizyn, sei weniger der Krieg oder die unzureichende Lebensmittelversorgung in den Städten, sondern vielmehr der Monarch selbst gewesen, der es versäumt habe, das liberal-radikale Lager mit harter Hand in Zaum zu halten. Auf die Gegenwart übertragen liest sich die Analyse beinahe wie eine programmatische Empfehlung für die repressive Politik des Kreml. Der historische Vergleich ist ohnehin fragwürdig. Aber hier geht es schließlich nicht um die Aufarbeitung revolutionärer Abläufe und schon gar nicht um eine Ursachenanalyse, sondern um eine möglichst nebenwirkungsarme Interpretation potenziell unbequemer Fakten. Da sich ganze Generationen in Russland zwangsweise mit der Oktoberrevolution zu beschäftigen hatten, deren Vorgeschichte jedoch nebulös blieb, fehlt es gesamtgesellschaftlich betrachtet sowohl an fundierter Sachkenntnis, als auch an einer emotionalen Vorbelastung. Das erleichtert die Angelegenheit ungemein.
Nach den Parlamentswahlen im Dezember 2011 meldete sich mehrere Monate lang jenes radikal-liberale Lager erneut zu Wort, das es Solschenizyn zufolge zu bekämpfen gilt. Eine Revolution ins Rollen zu bringen, lag den meisten, die gegen unfaire Wahlen und die Rückkehr Putins ins Präsidentenamt protestierten, reichlich fern. Dennoch löste der Druck der Straße Besorgnis im Kreml aus. Dessen repressive Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Darüber hinaus sollten aber auch neue, klar formulierte Wertvorstellungen vermittelt werden, etwa im Sinne einer staatlichen Leitkultur. Zur Verstärkung der anvisierten konservativ-patriotischen Meinungsbildung brauchte es auch passende historische Bezugspunkte. Dafür schien der Erste Weltkrieg geeignet, der in der russischen Gedenkpolitik bis dato keinen Platz hatte. Auch hier spielt das Motiv der Überwindung eines heiklen Revolutionspathos eine große Rolle.
Revolutionssymbolik ist in Russland noch sehr beliebt
Unbestritten gibt es in der russischen Gesellschaft immer noch starke Sympathien für Revolutionssymbolik, insbesondere für Wladimir Lenin als Inbegriff des Gründungsmythos der Sowjetunion. Mit gewaltigem medialem Aufwand wurde 2008 auf Initiative des Fernsehsenders Rossija und der Akademie der Wissenschaften versucht, per Abstimmung in Fernsehen, Radio und Internet den »Namen Russlands« zu ermitteln. Lenin nahm bei mehreren Durchgängen jeweils einen Platz unter den ersten zehn ein. In anderen Umfragen fällt er regelmäßig unter die ersten drei. Dabei bewertet über die Hälfte der Bevölkerung seine historische Rolle positiv. Die Führung tut sich deshalb schwer mit der Frage, wie mit Lenins sterblichen Überresten zu verfahren sei. Seit den neunziger Jahren wird dies in regelmäßigen Abständen heiß diskutiert. Am Status quo zu rütteln, wagt allerdings kaum jemand. Obwohl sich die Besucherströme in der mit dunkelrotem Granit verkleideten Gruft längst in überschaubarem Rahmen halten, polarisiert Lenins immer noch spürbare Präsenz die Gesellschaft derart, dass hier fast schon von einem Patt zu sprechen wäre.
Den bisher letzten Versuch, den Revolutionsführer aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz zu verbannen, unternahm Anfang 2011 Wladimir Medinskij. Damals noch einfacher Abgeordneter der Partei Einiges Russland, hatte er sich bereits als effizienter Lobbyist der Werbebranche, Alkohol- und Tabakindustrie einen Namen gemacht. Sein Statement war auf der Homepage des Einigen Russland nachzulesen, die Parteiführung beeilte sich jedoch klarzustellen, dass es keineswegs die Meinung der Partei widerspiegele. Der Kreml gab nicht einmal einen Kommentar dazu ab. Vorausschauend auf die nach der Krim-Annexion forcierte Annäherung an China vermied die russische Führung damit außerdem ein mögliches Reizthema beim Austausch mit den chinesischen Partnern. Vor dem Jubiläum 2016 äußerte der wissenschaftliche Sachverständigenrat im russischen Sicherheitsrat Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen gezielten Falschdarstellung zentraler Epochen der russischen Geschichte. Ausländische Staaten und internationale Organisationen könnten, zur Verwirklichung ihrer geopolitischen Interessen das historische Gedenken in Russland entstellen. Vorschläge zur Wiederbelebung einer speziellen historischen Kontrollkommission fanden jedoch keinen Anklang.
Der äußerst konservative Medinskij hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits nach oben gedient und durch zahlreiche populärwissenschaftliche Buchpublikationen einen festen Platz im neurussischen Geschichtsdiskurs eingenommen. Den verteidigte er seit Mai 2012 erst als Kulturminister und später als Vorsitzender der frisch gegründeten Russischen militärhistorischen Gesellschaft gegen seine zahlreichen Kritiker. Die zuständige Expertenkommission beanstandete inzwischen auch Medinskijs Dissertation zur Objektivitätsproblematik in der Darstellung russischer Geschichte vom 15. bis 17. Jahrhundert und sprach ihm grundlegende Kenntnisse wissenschaftlichen Arbeitens ab. Seine Erfahrung in der Lobbyarbeit kommt ihm bei der Popularisierung eines neuen Gedenkens zugute, das darauf abzielt, heikle historische Momente zu umgehen und aktuelle Sicherheitsinteressen durch entsprechende Geschichtsinterpretationen zu stärken.
Thesen zur nationalen Versöhnung
Bereits 2015 hatte er fünf Thesen zur nationalen Versöhnung aufgestellt. In ihnen geht es um die Anerkennung der Kontinuität vom russischen Imperium über das Sowjetregime bis zur Gegenwart, die tragischen Folgen gesellschaftlicher Spaltung, das Andenken an wichtige Persönlichkeiten beider Bürgerkriegsparteien, die Verurteilung der Ideologie des revolutionären Terrors und das Eingeständnis, dass die Unterstützung der Alliierten im Ersten Weltkrieg für den innenpolitischen Kampf ein Fehler war.
Im September ließ Medinskij im Hof der militärhistorischen Gesellschaft in der »Allee der Herrscher« alle sowjetischen Anführer als Skulpturen auferstehen, einschließlich Josef Stalin. Damit entsprach er der Haltung Putins, der für Lenin schon mal kritische Worte findet, sich aber gegen eine »überflüssige Dämonisierung« Stalins ausspricht. In den Kontext seiner Zeit will ihn der Kreml gerne einordnen. Stalin ist ein Produkt der Oktoberrevolution und verkörpert das finsterste Kapitel der sowjetischen Geschichte. Auch das kann die russische Führung nicht völlig ignorieren. Ende Oktober, am Gedenktag für die politisch Verfolgten, soll das erste zentrale Denkmal für die Opfer des staatlichen Terrors in Moskau eingeweiht werden. Die russische Gedenkpolitik gleicht einem Lavieren um unrühmliche Ereignisse, während deren Aufarbeitung im Hintergrund nur langsam voranschreitet.
ute weinmann