Das Gedenken an die Schoa ist seit Jahren Teil der russischen Erinnerungspolitik. Kinofilme, ob staatlich gefördert oder nicht, widmen sich dem Thema, und bei Gedenkveranstaltungen sprechen hochrangige Politiker – in diesem Jahr war es am 27. Januar sogar der Präsident höchstpersönlich. Wladimir Putin betonte in seiner Rede, die Nichtakzeptanz von Antisemitismus bringe Russland und Israel einander näher.
Und dennoch manifestiert sich der Judenhass im Land. Als vor einem Jahr Pjotr Tolstoi, Vizesprecher der russischen Duma, mit antisemitischen Klischees Gegner der Übereignung einer St. Petersburger Kathedrale an die Orthodoxe Kirche diffamierte, enthielt sich das Staatsfernsehen der Kritik. Zwar war der Vorfall nach Tolstois Entschuldigung beigelegt, aber er bot notorischen Antisemiten ein willkommenes Forum und zeigte, dass Inhaber staatlicher Ämter durchaus eine vom offiziellen Kanon abweichende Meinung vertreten können, ohne ihr Gesicht zu verlieren.
Alexander Werchowskij, Direktor des Zentrums SOVA, das seit vielen Jahren rassistische und antisemitische Vorkommnisse dokumentiert, konstatiert einen Anstieg von Antisemitismus im öffentlichen Raum seit Beginn der Kriegshandlungen im ukrainischen Donbass. »Das hat mit der aggressiven Propaganda zu tun«, sagte er der Jüdischen Allgemeinen. Um die Aggressivität auf hohem Niveau zu halten, seien Zensurvorgänge teilweise aufgeweicht worden. »Schließlich war die fast 100-prozentige Tabuisierung von Antisemitismus in offiziellen und halboffiziellen Kreisen seit den 90er-Jahren eine Folge bewusst angewandter Zensur. Jetzt findet sie nur noch zu 99 Prozent statt – und das fällt auf.«
Inzwischen kommt es in Russland regelmäßig zu antisemitisch motivierten Übergriffen oder Vandalismus. So zündeten in der Nacht zum 7. Januar 2018, dem orthodoxen Weihnachtsfest, Unbekannte den Geländewagen des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Murmansk an. Zuvor hatte er nie Drohungen erhalten. Wenige Tage später wurde erneut versucht, das nur teilweise beschädigte Fahrzeug niederzubrennen.
Auch Xenia Sobtschak, die bei den Präsidentschaftswahlen am 18. März kandidiert, wurde kürzlich zur Zielscheibe. Mitarbeiter entdeckten an den Außenwänden des Wahlkampfbüros im Zentrum von St. Petersburg die mit roter Farbe aufgetragene Aufschrift »Eine Jiddin ist kein Präsident«. Auch das weniger negativ konnotierte Wort »Jüdin« wäre in dem Zusammenhang eindeutig gewesen. Noch bevor die Polizei alarmiert werden konnte, hatten die Hausmeister die Schmierereien bereits eigenmächtig überstrichen.
Weitaus mehr Aufmerksamkeit erregte ein Vorfall an der Moskauer Lomonossow-Universität. Dort weigerte sich kürzlich der Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeografie, Wjatscheslaw Baburin, einem Studenten mit Kippa die Prüfung abzunehmen. Der Professor forderte den Studenten auf, den Raum zu verlassen oder die Kippa abzunehmen. Der Student entschied sich zu gehen, legte seine Prüfung bei einem anderen Dozenten ab und beschwerte sich im Rektorat.
Dass es sich bei dem Studenten um den Sohn des Vorsitzenden des Verbands jüdischer Gemeinden (FEOR), Aleksander Boroda, handelt, dürfte zwar die Öffentlichkeitswirkung des Vorfalls beeinflusst haben. Für die Beurteilung des Vorgehens des Professors ist dieser Umstand jedoch zweitrangig.
Zu seiner Verteidigung führte Baburin an, er habe sich lediglich an interne Vorschriften gehalten, wonach in den Universitätsräumen das Tragen von Jacken, Mänteln und Kopfbedeckungen untersagt sei. Rückendeckung erhielt er von Kollegen und aus dem Dekanat, das den Vorfall als Einzelfall einstufte – ohne Bezug zu etwaigen Vorgaben zum Umgang mit religiösen Attributen innerhalb der Fakultät. Schließlich sei es Angehörigen aller religiösen Konfessionen erlaubt, zu studieren und religiöse Symbole für alle sichtbar zu tragen.
In der Tat existieren in dieser Hinsicht keinerlei gesetzliche Einschränkungen. Umso mehr stellt sich die Frage, wie sich das Verhalten Baburins, aber auch die Reaktionen darauf einordnen lassen.
Für FEOR-Chef Alexander Boroda gibt es keinen Diskussionsbedarf. Der Vorfall sei für ihn erledigt, von Antisemitismus könne keine Rede sein, teilte er auf einer Pressekonferenz mit. Bei dem Professor handele es sich um einen Atheisten, der grundsätzlich keine religiösen Symbole bei seinen Prüfungen akzeptiere. Allerdings regte Boroda an, darüber nachzudenken, ob die Universität der richtige Ort für einen solchen Dozenten sei.
Anstatt eine Debatte über das Verhältnis von Säkularität und Demonstration konfessioneller Zugehörigkeit anzustoßen, bemühen sich alle Seiten in knappen Worten um Schadensbegrenzung. Oder Reaktionen bleiben gleich ganz aus, wie jüngst nach der Veröffentlichung eines Interviews auf der Seite Sports.ru mit dem Schauspieler und ehemaligen Kampfsportler Oleg Taktarow.
Einzig der FEOR kommentierte dessen Aussage, wonach Juden Hitler finanziert und die Hälfte der Aufseher in deutschen Konzentrationslagern gestellt hätten.
Weder der Interviewer noch die Redaktion scheint sich an der skandalösen Diffamierung zu stören. Dabei stellen der fortdauernde Unwille und wohl auch die Unfähigkeit, Antisemitismus beim Namen zu nennen oder auch nur jenseits historisierender Ansätze eine Sensibilität dafür zu schaffen, ein ganz wesentliches Hindernis dar, antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft ausfindig zu machen und wirksame Gegenkonzepte zu entwickeln.
Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Antisemitismus für Russlands Juden einen wesentlichen Grund bildet, auszuwandern. Allerdings ist seit 2012 zu beobachten, dass Jahr für Jahr immer mehr Juden Russland verlassen. Zu einem großen Teil werden wirtschaftliche Ursachen dafür genannt.
ute weinmann