Dass am 18. März alle russischen Staatsbürger aufgerufen sind, ihre Stimme bei den Präsidentschaftswahlen abzugeben, ist in Moskau schwerlich zu übersehen. Entsprechende Hinweise finden sich überall: an Bushaltestellen, in Einkaufszentren, und selbst die staatliche Fluggesellschaft Aeroflot weist Passagiere darauf hin, ihr Stimmrecht gegebenenfalls an einem anderen Ort wahrzunehmen.
Personalisierte Wahlwerbung auf großen Plakatwänden sieht man seltener, ausgenommen das gelbe Kürzel auf tiefblauem Grund der Liberaldemokratischen Partei LDPR, die ganz offensichtlich über ein solides Werbebudget verfügt. Deren unbestrittener Anführer und Politveteran Wladimir Schirinowskij kämpft bereits zum sechsten Mal mit einer unsäglichen Melange aus Hetzparolen gegen alle, die ihm in die Quere kommen, um das Präsidentenamt. Wie immer, ohne ans erklärte Ziel zu gelangen, denn der Posten ist bereits vergeben.
Leonid Tjoruschkin, Mitglied der jüdischen Gemeinde Moskau, hat schon zahlreiche Wahlen erlebt, seine Begeisterung für die kommende hält sich indes in Grenzen. »Ob ich zur Wahl gehe? Ich weiß noch nicht, aber stimmen würde ich gegen alle, wenn dies möglich wäre.«
Bis 2006 bestand auf den Wahlzetteln tatsächlich die Option, ein Kreuz gegen alle zu hinterlassen. Inzwischen sollte sie nur auf kommunaler Ebene wieder eingeführt werden. »Xenia Sobtschak kann nicht einmal richtig sprechen. Grigorij Jawlinskij ist mir eigentlich sympathisch, aber er hat seine Chancen schon vor etlichen Jahren verspielt. Putin wird jedenfalls auch ohne mich gewählt.«
Damit bringt der Archivar die Skepsis vieler Menschen in Russland zum Ausdruck, nicht nur der jüdischen Russen. Wladimir Putin ist und bleibt Präsident, egal wie groß sein Rückhalt in der Gesellschaft tatsächlich ausfallen mag. Diese Gewissheit gerät für die Machthaber zur größten Herausforderung, denn einen wirklichen Anreiz, am kommenden Sonntag einen Abstecher zur Wahlurne zu machen, bietet sie nicht.
Marina Smolina, Mitte 40, scherzt: »Die Wahlen verlaufen ohne Russen wie die Olympischen Spiele in Pyeongchang«. Sie bleibt jedenfalls ihrem Abstinenzprinzip weiterhin treu. Mit einer echten Wahl habe das alles nichts zu tun, und von den Kandidaten sage ihr auch niemand zu.
Am wenigsten kann sich Smolina für Xenia Sobtschak erwärmen. Und zwar nicht allein deshalb, weil die Tochter des ehemaligen Bürgermeisters von St. Petersburg und einstigen Weggenossen von Wladimir Putin, Anatolij Sobtschak, in jüngeren Jahren ihr Vermögen mit der Moderation geschmackloser Reality-Fernsehshows aufgestockt hat.
So zu tun, als träte die einzige Frau im Präsidentschaftswahlkampf als unabhängige Oppositionelle auf, obwohl sie mit großer Wahrscheinlichkeit vom Kreml ins Rennen geschickt worden ist, um öffentliches Interesse an dem faden Spektakel zu wecken, stößt selbst jene ab, die sich ihrer offen vorgetragenen Kritik am Präsidenten und seiner Machtstruktur im Stillen anschließen.
Wahlenthaltung oder Boykott, wie er unter anderem von Anhängern des nationalistischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny vertreten wird, der selbst keine Zulassung zu den Wahlen erhielt, werden unweigerlich für eine niedrige Wahlbeteiligung sorgen. Zu tief darf sie allerdings nicht fallen, sonst macht sich der Präsident unglaubwürdig. Gleichzeitig dürfen Opponenten, die Wahlberechtigte animieren könnten, ihre Stimme abzugeben, das Ergebnis nicht zu sehr beeinflussen. Eine diffizile Aufgabe.
Insgesamt wurden acht Kandidaten zugelassen, die vermeintlich das gesamte politische Spektrum abdecken – von Stalinisten, Kommunisten und sowjetnostalgischen Nationalisten bis hin zur gemäßigten liberalen Opposition, vertreten durch den langjährigen Vorsitzenden der Jabloko-Partei Grigorij Jawlinksij. Einen wie auch immer gearteten jüdischen Kandidaten gibt es nicht. Wäre die jüdische Herkunft entscheidend, müssten Schirinowskij oder Jawlinskij an erster Stelle stehen, gefolgt von Xenia Sobtschak.
»Es gibt in Russland nicht allzu viele religiöse Juden, aber sie werden voraussichtlich für den amtierenden Präsidenten stimmen, denn sie haben Angst vor Instabilität.« Diese Einschätzung formuliert ein Kenner der Verhältnisse, der sich selbst zu den religiösen Juden zählt, aber anonym bleiben möchte.
»Putin gilt als Garant dafür, dass Antisemitismus nicht aktiv als Instrument staatlicher Politik zum Tragen kommt. Säkulare Juden sind im Wesentlichen liberal eingestellt, und dementsprechend werden sie auf keinen Fall Putin ihre Stimme geben.«
Wenn sie überhaupt zur Wahl gingen, dann wohl »zugunsten solcher Clowns wie Xenia Sobtschak oder Boris Titow«, sagt der Mann. Im Prinzip lohne es sich, für niemanden zu stimmen. »Viele, darunter auch religiöse Juden, werden sich deshalb wohl von den Wahlurnen fernhalten. Denn letztlich gibt es gar keine Wahl, sondern das ist alles nur ein Schauspiel.«
Roman Zhigun ist Historiker und zählt mit seinen 25 Jahren zur jüngeren Generation. »Noch habe ich mich nicht ganz festgelegt«, sagt er. »Ich schwanke zwischen Pawel Grudinin und Boris Titow.« Ersterer ist Kandidat der Kommunistischen Partei KPRF, Letzterer ist Vorsitzender der Wachstumspartei und Unternehmervertreter. »Ich gehe nach dem Ausschlussverfahren vor. Letztlich gebe ich meine Stimme dem Kandidaten mit den wenigsten Chancen. Bei uns wird ja nicht für jemanden gestimmt, sondern gegen jemanden. Neulich habe ich mir ein längeres Interview mit Grudinin angeschaut, dabei kam er total ins Schwimmen. Also werde ich wohl am ehesten Titow wählen.«
Auch Wlad Tupikin, freischaffender Dozent, will zur Wahl gehen. »Ich würde am liebsten für eine linke Partei stimmen, aber unter den gegebenen Kandidaten gibt es keine linken Kräfte. Die stalinistische Partei ›Kommunisten Russlands‹ ist genauso inakzeptabel wie die KPRF, die sich ebenfalls gern auf Stalin bezieht. In diesem Fall bleibt nur die Option, für einen Kandidaten zu stimmen, der für liberale politische Freiheiten steht. Da gibt es nur einen: Grigorij Jawlinskij.«
Von Xenia Sobtschak hält auch Wlad Tupikin nicht viel. »Sie tut sich zwar mit ähnlichen Aussagen wie Jawlinskij hervor, aber sie tritt ganz offensichtlich als Projekt des Kremls auf.«
Doch ganz gleich, wie die Wahlen ausgehen – auch Tupikin weiß: Das Ergebnis steht seit Langem fest.
ute weinmann