Die Staatsgewalt ist gerüstet. Demokratische Rechte sind kein Thema, schon gar nicht bei der FIFA
Wer eine Reise zur Fußballweltmeisterschaft der Männer in Russland plant und sich eine nette Zeit machen will, darf sich freuen. Russland hat viele beeindruckende historische Sehenswürdigkeiten zu bieten, und die werden Außenstehenden gerne präsentiert. Was die weniger schöne aktuelle Realität angeht, gibt es immer Mittel und Wege, diese aus dem Sichtbereich herauszuhalten. Der offizielle WM-Trailer der FIFA gibt den Ton vor: Statt eines fünfzackigen Sterns ist dort auf einem der Kreml-Türme ein Kirchenkreuz abgebildet.
Als die Entscheidung zur Vergabe der WM 2018 fiel, gehörte die Krim zur Ukraine, und der Donbass war kein Kriegsgebiet.
Dementsprechend waren auch noch keine jeglicher Rechtsstaatlichkeit spottenden Gerichtsurteile gefällt gegen vermeintliche Terroristen von der Krim, wie den Regisseur Oleg Sentsow oder den Anarchisten und Antifaschisten Alexander Koltschenko. Beide sitzen in russischen Straflagern hohe Haftstrafen ab — 20 beziehungsweise zehn Jahre. Sentsow ist seit dem 14. Mai im Hungerstreik, um die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen in Russland durchzusetzen. Unter ärztlicher Aufsicht wird er mit lebenserhaltenden Nährstoffen versorgt, denn sein Tod ausgerechnet während der WM käme der russischen Führung denkbar ungelegen. Gleichwohl signalisiert diese keine Bereitschaft, auf Sentsows Forderungen einzugehen. Niemand stellt derartige Bedingungen, auch nicht die FIFA. Die hat sich schon vor acht Jahren wenig um die auch damals schon besorgniserregende Menschenrechtslage in Russland geschert. Spielboykotte sind heutzutage kein Thema mehr. Das Recht auf internationale Sportevents in jedem Land, das sich diese leisten kann, wiegt mehr als alles andere.
Teure Tickets, hohe Profite
Kurz vor Anpfiff des WM-Auftaktspiels ist es im extra frisch herausgeputzten Viertel rund um das Moskauer Stadion Luzhniki noch ruhig. Nur vereinzelt holen Fans ihre Spielpässe ab, darunter auffallend viele Frauen. Polizisten haben indes bereits Stellung bezogen und greifen Personen heraus, die gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, etwa durch Rauchen in unmittelbarer Nähe der Station der Moskauer Ringbahn. An der Fassade des großzügigen Bahnhofseingangs verrichten junge Männer aus Zentralasien letzte Arbeiten, bevor der erwartete Ansturm beginnt. Zur WM haben sie keine Meinung, wollen dann aber doch wissen, welche Mannschaften spielen und wie teuer die Tickets sind. Zu teuer. Damit hat sich ihre Neugierde erschöpft. 46 Prozent der Leser_innen der Tageszeitung Kommersant haben ebenfalls Desinteresse an der WM bekundet, was sich in etwa mit den Zahlen des Marktforschungsinstitutes Mediascope deckt. Der Rest will die Spiele im Fernsehen oder im Stadion anschauen, und fünf Prozent der Bevölkerung planen, eigens dafür Urlaub zu nehmen. Ebenso wenige glauben an den Titelgewinn der russischen Mannschaft.
Jedem kommerziellen Megasportevent gehen Prognosen voraus, wer welchen finanziellen Profit daraus zieht. Das Beratungsunternehmen McKinsey, das vor zwei Jahren der deutschen Bundesregierung Ratschläge hinsichtlich einer effizienter zu gestaltenden Abschiebepraxis erteilte, geht davon aus, dass die Vorbereitung und Durchführung der WM Russland im Zeitraum von 2013 bis 2018 ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes beschert. Über die horrenden Kosten für den Bau neuer Sportanlagen, deren spätere Auslastung zumindest teilweise in Frage steht, gab es viele Berichte. Aber auch nicht direkt an den Sport gebundene Infrastruktur wurde erneuert. So erhielt Wolgograd erstmals nach seinem Wiederaufbau nach dem Krieg im Stadtzentrum neue Abwasserrohre. Ohne die WM hätte die Bevölkerung darauf womöglich noch weitere Jahrzehnte warten müssen.
Für lukrative Routen des öffentlichen Nahverkehrs in der Stadt an der Wolga erhielt im Vorfeld das St. Petersburger Transportunternehmen Piteravto den Zuschlag, das zum Geschäftsimperium des Sohnes von Walentina Matwienko gehört, der Vorsitzenden des russischen Föderationsrats. Zuvor wurden diese Strecken von lokalen Firmen mit Kleinbussen befahren. Im vergangenen Jahr waren die lokalen Transportunternehmen sogar kurzfristig in den Streik getreten, weil sie fürchteten, ihre Einkommensgrundlage zu verlieren, wenn ihnen während der WM Piteravto das Wasser abgraben würde. So weit ist es nicht gekommen. Kurz vor Beginn der WM blieben die Einnahmen des Unternehmens jedoch unter den Erwartungen, so dass nicht auszuschließen ist, dass sich Piteravto nach Ende der Spiele aus Wolgograd zurückzieht. Landesweit sind es derzeit aber die in den letzten Monaten inflationär angestiegenen Benzinpreise, die in der Bevölkerung für Besorgnis und auch Kritik an der Regierung sorgen.
Mit aller Macht gegen »Terroristen«
Auch eingeschworene russische Fußballfans müssen sich zumindest übergangsweise den Gesetzen internationaler Sportevents beugen. Längst nicht alle werden sich ein Spiel live ansehen können. Im Frühjahr kam der Verkauf per Internet ins Stocken, die Fans wurden auf den traditionellen Kassenverkauf vertröstet, der Anfang Mai mit riesigen Warteschlangen einsetzte. Wer Fußball nur im Paket mit einer handfesten Massenprügelei genießen mag, geht ohnehin leer aus. Russische Hooligans stehen seit geraumer Zeit unter Aufsicht der Sicherheitsbehörden, Telefone werden abgehört, Haftstrafen drohen. So richtig ausgelassen feiern und auch mal kleinere Gewaltexzesse zwischendurch anzetteln dürfen wohl nur die aus dem Ausland angereisten Fans, denn sie kommen und gehen nach kurzer Zeit wieder. Bei den lokalen Fans sorgt diese Prämisse für wenig Begeisterung.
Sicher sollen sie sein, die Spiele. So richtig austoben dürfen sich konsequenterweise lediglich die Sicherheitsbehörden, schließlich gilt es, Terroranschläge zu verhindern. Die Polizei, der Inlandsgeheimdienst FSB und andere verwandte Strukturen zählen somit zu den Hauptprofiteuren der WM. Der stellvertretende Außenminister Oleg Syromolotow äußerte sich zuversichtlich, dass Russland den Herausforderungen gewachsen sei. Allein im Zeitraum zwischen dem 21. und dem 24. April seien 26 Terroristen beseitigt worden. Überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Namen nannte er wohlweislich keine, den Medien wurden anders als in anderen Fällen weder Täter noch ihr Waffenarsenal vorgeführt.
FSB-Angehörige in der Stadt Pensa wollen gleich ein ganzes Terrornetzwerk ausgehoben haben, das Anschläge während der WM geplant haben soll mit dem Ziel, nicht weniger als einen Volksaufstand herbeizuführen. Seit Oktober sitzen in Pensa fünf junge Antifaschisten in Haft, in St. Petersburg erfolgten Ende Januar weitere drei Festnahmen. Die Beweislage ist mehr als dürftig und basiert im Wesentlichen auf durch Foltermaßnahmen erpresste Schuldeingeständnisse. Zum Einsatz kamen nicht nur physische und psychologische Gewalt, sondern Elektroschocks und in Pensa auch eine Strommaschine, die an die Gliedmaßen angeschlossen wird. Dort fanden Folterungen direkt im Untersuchungsgefängnis statt und wurden wieder aufgenommen, nach dem Dmitrij Ptschelintsew, der als einer der Anführer gilt, seine Aussage wieder zurückgezogen hatte. Ilja Schakurskij, ebenfalls aus Pensa, und Viktor Filinkow, der bei der Ausreise in die Ukraine festgenommen wurde, taten es ihm gleich. Filinkows Frau und ein in St. Petersburg gefolterter Zeuge haben in Finnland um Asyl ersucht.
Eigentlich müsste dieser skandalöse Fall für internationale Empörung sorgen, aber selbst für ihre Kritik an den Zuständen in Russland bekannte ausländische Medien hüllen sich in Schweigen. Der für seine Oppositionelle diskreditierenden Propagandabeiträge berüchtigte russische Fernsehsender NTV strahlte erst dann einen die Sachlage komplett entstellenden Beitrag aus, als es gelang, die faktische Informationsblockade durch eine Solidaritätskampagne in den russischen Metropolen Moskau und St. Petersburg wenigstens ansatzweise zu brechen.
Im Übrigen geht auch für Migrant_innen die größte Gefahr während der WM weniger von rechtsradikalen Hools als von der Polizei aus. Seit dem 25. Mai gelten gesonderte Regelungen, wonach jede Person nach ihrer Ankunft an einem der Austragungsorte der WM innerhalb von drei Tagen einer polizeilichen Meldepflicht unterliegt. Für in Hotels untergebrachte Reisende stellt dies keine Hürde dar, für Ausländer_innen, die sich jenseits der offiziell erwünschten Tourismuspfade bewegen, kann dies zur Ausweisung führen. Menschenrechtsorganisationen berichteten bereits von zunehmenden Polizeirazzien unter Migrant_innen. Die russische Opposition widmet sich derweil voll und ganz den im September anstehenden Bürgermeisterwahlen in Moskau. Dann sind die Spiele nur noch Geschichte.
ute weinmann