Durch den erwartungsgemäßen Ausgang der russischen Präsidentschaftswahlen im März dieses Jahres schien sich zum wiederholten Mal bestätigt zu haben, was ohnehin als offensichtlich gilt: Russlands Führung sitzt fest im Sattel. Die Frage, wie stabil Russlands Herrschaftssystem tatsächlich ist, lässt sich daran allerdings nicht eindeutig beantworten und erfordert eine komplexere Betrachtung der Zustände im Land. Jedenfalls ist der überragende formale Sieg von Wladimir Putin, der mit knapp 77 Prozent sein bislang bestes Wahlergebnis vorweisen konnte, nur bedingt als Gradmesser für die reale Zustimmung zu seiner Regierung zu gebrauchen.
Es macht wenig Sinn, eine Wahl in Russland als aussagekräftiges Statement zu interpretieren. In der hiesigen politischen Praxis sind programmatische Aussagen wenig wert und werden gegebenenfalls am Folgetag nach einer Wahl komplett über Bord geworfen. Politische Konkurrenz zwischen diversen Fraktionen innerhalb des Machtapparates, in das System eingebundener Parteien und davon ausgeschlossenen oppositionellen Gruppierungen entsteht zwar durchaus. Jedoch wird diese praktisch unter Ausschluss einer breiten Öffentlichkeit ausgetragen und ist zudem durch den ungleichen Zugang zu medialen und anderen Ressourcen per se nicht als Instrument zur Erreichung eines gesellschaftlichen Interessenausgleiches gedacht.
Ansprüche und Forderungen weiter Bevölkerungsteile haben mangels entsprechender Institutionen und Beteiligungsmöglichkeiten kaum eine Chance, Gehör zu finden oder sich auch nur in angemessener Weise zu artikulieren. Werte und politische Inhalte stehen zudem nicht für sich, sondern werden durch eine Person verkörpert, die nicht einfach austauschbar ist. Zumal in einem System, dass kolossale Anstrengungen unternimmt, um potenzielle Führungskader innerhalb der bestehenden Hierarchien in feste Schranken zu weisen und Unwillige, sich den Spielregeln zu fügen, gegebenenfalls einfach ausschaltet.
Dass sich stellenweise Aktivitäten unabhängiger Wahlbeobachter_innen nicht unterbinden ließen, bleibt eine statistische Randnote. So gelang es beispielsweise in Tschetschenien in zwei Wahllokalen die reale Wahlbeteiligung bei 35 zu fixieren, anstelle von «offiziellen» 83 Prozent. Insgesamt wurden jedoch weniger Wahlverstöße festgestellt, was einerseits auf deutlich verschärfte Bedingungen für die Beobachtung vor Ort zurückzuführen ist. Andererseits beugten sich viele dem Willen staatlicher Arbeitgeber_innen, die ihre Angestellten mit Druck und Kontrolle zur Stimmabgabe bewegten.
Doch selbst wer sein Kreuz hinter Putin gesetzt hat, muss längst nicht stramm hinter der russischen Führung stehen. Wähler_innen stimmen, zumindest hinsichtlich der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse im Land nicht unbedingt für Kontinuität und Stabilität, sondern gegen einen abrupten Bruch mit vertrauten Bedingungen. Ein rascher, unkontrollierbarer Wandel weckt bei vielen Menschen mehr Ängste, als die Beibehaltung des alles in allem wenig attraktiven Status Quo.
Darauf, dass sich die Bevölkerung Veränderungen wünscht — ohne von den Machthaber_innen nach ihrer Meinung gefragt zu werden — weist nicht nur die große Resonanz auf die Enthüllungen des nationalistischen Antikorruptionspolitikers Aleksej Nawalnyj angesichts unverhohlener Bereicherungen und Habgier in der russischen Elite hin, sondern viele meist lokale Proteste gegen Missstände im Land. Derartige Kritikäußerungen dürften im Kreml mit einiger Sorge aufgenommen werden. Selbst mit Hinblick darauf, dass die Kommunistische Partei KPRF als systeminterne Institution keineswegs als treibende Kraft für Reformen agiert, wird ihr doch ein gewisses Protestpotenzial zugeschrieben. Dementsprechend gering sollte das Wahlergebnis dessen Kandidaten Pawel Grudinin ausfallen, der von der Partei als Außenseiter ins Spiel gebracht wurde, aber genau deshalb Anfangs auf große Sympathien traf.
Trotz einer unsäglichen Schmierkampagne, für die er durch seine Auslandskonten selbst ausreichend Stoff geliefert hatte, legte Grudinin mit knapp zwölf Prozent ein passables Ergebnis hin. Dies darf zumindest als leicht lesbares Signal für eine fehlende Zustimmung zur Innenpolitik der russischen Führung gedeutet werden, denn deren außenpolitischen Kurs trägt nicht nur die KPRF, sondern der überwiegende Teil der Bevölkerung unhinterfragt mit.
Im Inneren hat die russische Führung in den vergangenen Jahren nicht allzu viele Erfolge vorzuweisen. Dmitrij Medwedjew trat 2008 mit dem Slogan an, Russland einer Modernisierungskur unterziehen zu wollen. Das Projekt war jedoch zum Scheitern verurteilt. Auch heute lassen weder die äußeren, noch die inneren Rahmenbedingungen die Annahme zu, dass die russische Wirtschaft trotz gestiegener Ölpreise relevante Wachstumsraten erwartet. Im Jahr 2017 lag das Wirtschaftswachstum deutlich unter zwei Prozent. Das verleitet die politische Führung, die ohnehin auf einen Stärke und Überlegenheit ausstrahlenden Staat setzt, der versucht, sich international als eigenständiger Akteur zu profilieren, zwecks Machtsicherung die Priorität auf eine Dominanz außenpolitischer Themen zu legen.
Für jede innenpolitische Misere findet sich eine Erklärung, die sich dem direkten Einfluss und der Verantwortung des Präsidenten entzieht. Russlands Machtapparat inszeniert sich geschickt als Opfer politischer Intrigen westlicher Staaten und trifft damit offenbar die richtige Tonlage, obgleich dies mit Blick auf westliche Sanktionen durchaus mit finanziellen Einbußen verbunden ist. Die derzeitige Außenpolitik der russischen Führung ist maßgeblich darauf ausgerichtet, das Land im Inneren auf effektive Weise kontrollieren zu können. Man kann dem Westen vorwerfen, Russland in Fragen der politischen Annäherung in der Vergangenheit wenig Entgegenkommen gezeigt zu haben. Anders als in Bezug auf die Türkei oder die Ukraine gab es beispielsweise nicht einmal den Anschein eines Versprechens für einen visafreien Reiseverkehr. Aber die Gründe für einen an Schärfe gewinnenden Politikstil des Kreml sind im Bestreben zu suchen, den Machterhalt der derzeitigen Führungsriege um jeden Preis zu garantieren.
Zwar trat Putin bereits spätestens seit seiner zweiten Amtszeit als Staatsmann mit einer eigenen, der NATO, den USA und zunehmend auch der Europäischen Union gegenüber offensiv vertretenden Agenda auf, Konturen einer deutlichen Konfrontation mit dem Westen zeichneten sich jedoch erst mit Einsetzen des Arabischen Frühlings ab. Ein weiterer Wendepunkt war zudem mit den Massenprotesten gegen unfaire Wahlen und die Wiederwahl Putins im Jahr 2012 erreicht. Der Kreml identifizierte den Westen als treibende Kraft und sorgte zudem für die Verurteilung dutzender Beteiligter aus unterschiedlichen politischen Spektren in mehreren Gerichtsverfahren, die jeglicher Form von Rechtsstaatlichkeit spotten.
Aber erst die politischen Umbrüche in der Ukraine, der Krieg im Donbass und Russlands konsequente politische und militärische Unterstützung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad führten nicht nur zu harscheren verbalen Tönen im zwischenstaatlichen Umgang, sondern zu Wirtschaftssanktionen gegen Russland und einer Reihe von Oligarchen, deren Dienstleistungen und Loyalität gegenüber dem Kreml einen entscheidenden Beitrag zur Funktionsfähigkeit des Machtapparates leisten. Die im April gegen 38 russische Oligarchen, Unternehmen und Angehörige des Sicherheitsapparates verhängten US-Sanktionen bergen finanzielle und strukturelle Risiken, die die Bevölkerung in vollem Maße mitzutragen hat. Und gegen die bislang niemand aufbegehrt.
Nun will die russische Führung ihr Augenmerk wieder mehr auf die Innenpolitik richten. Putin versprach nach seiner Wiederwahl politische Maßnahmen zur Anhebung des Lebensstandards in Russland in den Fokus zu rücken. Unter anderem sollen wieder mehr Mittel für das Gesundheitswesen bereit gestellt werden, das nach rigiden Kürzungen in der Kritik steht. Dabei bleibt die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Landes zentraler Punkt der Tagesordnung. Da der Staatshaushalt nun auch noch mit Unterstützungsmassnahmen für von den US-Sanktionen betroffenen Unternehmen belastet wird, bleibt die Frage, aus welchen Quellen die Regierung beabsichtigt die anstehenden Ausgaben zu decken.
Am Eröffnungstag der Fußball-Weltmeisterschaft beschloss die russische Regierung die längst geplante Rentenreform umzusetzen, obwohl die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sich gegen die Pläne ausspricht. Bei einer angekündigten Anhebung des Renteneintrittalters für Männer auf 65 Jahre besteht der Verdacht, dass angesichts der geringen Lebenserwartung ein beträchtlicher Teil der männlichen Bevölkerung kaum seine Ansprüche geltend machen kann. Bei der weiblichen Bevölkerung sieht die Statistik etwas günstiger aus, zumal für sie Rentenansprüche ab 63 Jahren gelten sollen, und nicht ab 55 Jahren wie bisher.
Anfang Juni rief der unabhängige Gewerkschaftsverband Konföderation der Arbeit KTR zu einer Kampagne gegen die Regierungspläne auf mit dem Verweis, dass sich die Defizite des Rentenfonds aus dem hohen Anteil an Schattenwirtschaft ergeben, die bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Würden Lohnabhängige hingegen legal beschäftigt und die Arbeitgeber_innen Beitrage in geltender Höhe von 22 Prozent der Gehälter entrichten, könnten die Rentenkosten gedeckt werden, ohne die Lebensarbeitszeit anzuheben. Die KTR fordert deshalb, eine legale Beschäftigung aller Arbeitnehmer_innen anzustreben. Gegen eine Anhebung des Renteneintrittsalters stellt sich im Übrigen auch der mitgliederstärkste Gewerkschaftsverband FNPR und auch aus den Duma-Parteien meldeten sich kritische Stimmen zu Wort, die KP bereitet ein Referendum vor.
In den Staatsmedien startete parallel dazu eine aggressive Kampagne, die Gegner_innen des Projekts regelrecht der Arbeitsverweigerung denunziert. Übrigens darf ausgerechnet in dieser Frage der Westen als Vorbild herhalten, wo dort schließlich das Rentenalter deutlich höher liegt als in Russland. Strukturelle Unterschiede und die Notwendigkeit zur Rentensicherung langfristig Massnahmen in der Wirtschafts- und Steuerpolitik zu ergreifen, sind aber kein Thema.
Gleichzeitig zeichnen sich die Strafverfolgungsbehörden, deren privilegierte Sonderstellung in der Rentengesetzgebung im Übrigen durch die anstehende Reform nicht tangiert wird, durch ein immer härteres und repressiveres Vorgehen aus. Betroffen sind die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen: Zeugen Jehovas, Kulturschaffende wie der international anerkannte Regisseur Kyrill Serebrennikow und sein Team oder Geschäftsleute, die mächtigeren Akteur_innen in der Branche in die Quere kommen, und natürlich auch politisch Oppositionelle. Oft handelt es sich um absurde Vorwürfe bei minimaler Beweislage. Gelegentlich reicht die Weiterverbreitung einer Veröffentlichung in sozialen Netzwerken aus, dessen Urheber_innen nicht belangt werden. Schwerwiegende Anschuldigungen bis hin zu Terrorismus bilden ebenfalls keine Ausnahme mehr, wobei auch Foltermethoden beispielsweise mit Elektroschocks zum Einsatz kommen, wie im Fall junger Antifaschisten aus Pensa und St. Petersburg. Anwält_innen und Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass dem immer gewaltvolleren Durchgreifen von Polizei und Inlandsgeheimdienst FSB kaum beizukommen ist. Mit Ausnahme behördlich genehmigter Kundgebungen, die gerne an wenig frequentierte Orte verbannt werden, ruft fast jeglicher auf der Straße ausgetragene Protest scharfe polizeiliche Gegenmaßnahmen und Strafverfolgungen hervor. Das schürt Angst davor publik Stellung zu beziehen.
Den Staat umgibt in Russland eine fast sakrale Aura mit einer zunehmend immer unantastbareren Führungsfigur, die über allen und allem steht. An deren Schaffung und Aufrechterhaltung arbeitet ein ganzes Heer an im staatlichen Mediensystem Beschäftigter. Als abstraktes Gebilde stellt der Staat eine Art Fetisch dar. Gleichzeitig bildet sich in der Bevölkerung im praktischen Umgang mit staatlichen Institutionen und Behörden eine tiefe Abneigung gegen alle konkreten Formen staatlicher Gewaltausübung. Forderungen an Entscheidungsträger_innen lauten dabei im Regelfall nicht nach einem Anspruch auf mehr Partizipation, vielmehr reduziert eine überwiegende Mehrheit den Staat auf grundlegende Aufgaben, nämlich die Übernahme eines Minimums an sozialen Verpflichtungen. Ansonsten steigt die Zufriedenheit in dem Maße, in dem der Staat seine Bürger_innen walten lässt und, solange diese ihrer politischen Entmündigung zustimmen, strenge gesetzliche Vorgaben nur selektiv umsetzt.
Das ruft die Illusion hervor, von etwaigen strafrechtlichen Konsequenzen ausgenommen zu sein, schafft jedoch durchaus relevante Freiräume. Auch auf Angehörige der das Herrschaftssystem flankierenden Sicherheitsapparate trifft dieses ungeschriebene Gesetz zu. Wer innerhalb der geltenden Hierarchien die Regeln der Subordination in angemessener Weise befolgt, sprich Vorgesetzten nicht in die Quere kommt, darf sich bereichern, die Kontrolle über Firmen an sich reißen und Profit einstecken, ohne mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen zu müssen. Generell ruft in Russland jede Einmischung in die Privatsphäre Unmut hervor, weshalb sich die Behörden diesem Instrument mit einer gewissen Zurückhaltung bedienen. Dabei gibt es allerdings Grenzen, wie der missglückte Versuch zeigt, den von dem Russen Pawel Durow entwickelten Messenger Telegram zu blockieren.
Zum Protest auf der Straße kommt es nur in Extremfällen, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft scheinen. Im März und April machte die Bevölkerung der Stadt Wolokolamsk im Moskauer Umland von sich reden. Tausende beteiligten sich an Protesten gegen eine immens angewachsene Mülldeponie vor Ort, die einst nur für den lokalen Bedarf eingerichtet worden war, seit ihrer Privatisierung jedoch ohne Einhaltung technischer Mindeststandarts und Mengenbegrenzungen als Lagerungsort für Abfälle aus Moskau genutzt wird. Giftige Substanzen verpesten die Luft. Nachdem Dutzende von Kindern medizinisch behandelt werden mussten, wobei den behandelnden Ärzt_innen verboten worden war, ihre Diagnose mit der Müllhalde in Verbindung zu bringen, gingen die Menschen auf die Straße. Der Bezirkschef musste wegen Unfähigkeit, die Masse zu beruhigen, seinen Hut nehmen. Bewohner_innen von Wolokolamsk haben inzwischen eine Zivilklage gegen die Betreiberfirma der Deponie eingereicht und für September ein Referendum initiiert, das den Entscheid über eine mögliche Schließung bringen soll. Auch an anderen Orten im Moskauer Umland stöhnt die Bevölkerung angesichts der rasant wachsenden Müllberge aus der Hauptstadt. Bürgerinitiativen versuchen mit unterschiedlichen Mitteln auf Rechtsverstöße aufmerksam zu machen, was ihnen meist nur punktuell gelingt. Zumal zur Sommerzeit nicht wenige Menschen ihren Lebensmittelpunkt auf die Datscha verlegen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Chancen sich die russische Opposition einräumen kann, jemals zum Zuge zu kommen. Dazu kommen haufenweise interne personelle und programmatische Streitigkeiten zwischen Führungsfiguren und Inkompetenz, die sich schlicht darauf zurück führen lässt, dass kaum jemand aus diesen Kreisen über reale Politikerfahrung verfügt. Insbesondere für junge Menschen bietet sich innerhalb bestehender Strukturen immerhin eine vage Option, sich der Politik anzunähern, aber ernsthafte Debatten über Alternativkonzepte gibt es kaum. Bekäme die Opposition morgen den Auftrag eine neue Regierung zu formieren, hätte sie große Schwierigkeiten geeignete Kader zu benennen. Insofern ist es zu begrüßen, dass in Moskau bei den letzten Bezirkswahlen erstmals seit langem zahlreiche unabhängige Kandidat_innen mit dem Ziel angetreten sind, die unterste Machtebene neu zu gestalten. Tatsächlich besteht nun in 25 von 125 Stadtbezirken eine Mehrheit aus oppositionellen Abgeordneten.
Die Linke spielt in Russland politisch derzeit lediglich eine Statist_innenrolle, wenngleich sich viele Aktivist_innen darüber hinwegzutrösten versuchen, dass sich in Russland, zumindest in der Rhetorik einiger öffentlicher, der Opposition nahestehenden Personen eine Renaissance linker sozialdemokratischer Positionen abzeichnet.
Eines der Projekte unabhängiger linker Gruppierungen ist eine aktivere Beteiligung an Kommunalwahlen, die, anders als auf föderaler Ebene, eine Partizipation am politischen Geschehen versprechen. Um Kräfte zu bündeln gibt es Überlegungen für eine Parteigründung.
Unabhängige Gewerkschaften haben längst die Notwendigkeit einer politischen Interessenvertretung erkannt und sehen akuten Handlungsbedarf. In den kommenden Monaten wird in ihrem Focus allerdings der Kampf gegen die anstehende Rentenreform stehen. Im Juli findet in der Duma die erste Lesung des Gesetzesprojektes statt, im Herbst soll das Gesetz verabschiedet werden. Auf lokaler und regionaler Ebene könnten die sich bereits abzeichnende Zunahme von Protesten durchaus zu einer zielgerichteten Vernetzung von Aktivist_innen führen. Initiativen wie die Russische Sozialistische Bewegung RSD und Moskauer Linke um die Gewerkschaft Universitätssolidarität diskutieren über Optionen für eine parteiorientierte Zusammenarbeit mit linken Strukturen in den Regionen. Hilfreiche Kontakte gibt es durchaus, aber die Ressourcen sind beschränkt und die Aussichten eine neue Partei zu registrieren ohnehin trübe.
Sergej Udaltsow, vormals Anführer der Linksfront, setzt auf eine Erneuerung bestehender Parteien bzw. auf Synergien zwischen Anhänger_innen von KPRF und dem Gerechten Russland, sie sich durch den derzeitigen Zuschnitt der Parteien nicht vertreten fühlen.
Aber noch viel wichtiger scheint im Moment zu sein, dass Beispiele von Selbstorganisation die Runde machen und sich Basisbewegungen von unten bilden, die eigene Interessen artikulieren und trotz massiver staatlicher Gegenwehr in Teilen durchsetzen. In dieser Hinsicht haben russische LKW-Fahrer in den vergangenen zwei Jahren mit ihrem couragierten Vorgehen eine enorme Vorarbeit geleistet für regional übergreifende Zusammenschlüsse. Immerhin konnten sie einige Teilerfolge für sich verbuchen, wenngleich auch sie dem politischen, aber auch ökonomischen Druck letztlich nicht vermochten standzuhalten. Doch ihre im Verlauf der langanhaltenden Streiks geschaffene Struktur besteht weiter und ermöglicht somit einen organisierten konzeptionellen Austausch.
Von einer breiten Öffentlichkeit unbemerkt finden auch in Kleinstädten Proteste statt, die sich gegen lokale Missstände richten, aber auch gegen die Politik des Moskauer Machtzentrums. Trotzdem stellt sich immer wieder die Frage nach viel zu gering ausgeprägter Solidarität in der Gesellschaft. Es ist ein äußerst schwieriges Unterfangen, Bürgerinitiativen ins Leben zu rufen und daraus tragfähige Strukturen zu bilden. Die Gesellschaft ist von starkem Misstrauen geprägt und der Begriff Selbstorganisation wird oft hin zu einer staatlich kontrollierten Formierung organisierter Einheiten umgedeutet.
Ein realer politischer Kampf gegen den russischen Machtapparat scheint heute unmöglich, insofern lässt sich durchaus von Stabilität sprechen. Obwohl der Begriff Resignation die Gegebenheiten wohl besser beschreibt, denn von einer breiten Zustimmung der Bevölkerung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik der russischen Führung kann nur bedingt gesprochen werden. Aber weder sind die Voraussetzungen für strukturelle Veränderungen gegeben, noch, angesichts schwindender Ressourcen, für die Beibehaltung des Status Quo. Die anstehende Rentenreform birgt zumindest das Potenzial passive Menschen landesweit zu politisieren und auch hinsichtlich lokaler Missstände regt sich Widerstand. Und so bleibt Maxim Gorkijs Aufruf gegen das Spießertum auch heute noch aktuell: «Rechte bekommt man nicht, man nimmt sie sich.»
ute weinmann