Der in Russland zu 20 Jahren Haft verurteilte Regisseur Oleh Senzow ist seit dem 14. Mai im Hungerstreik. Er ist der bekannteste, aber nicht der einzige ukrainische Gefangene in russischer Haft.
Wer sich Imagepflege in großem Stil leisten kann, ist mit der Ausrichtung einer Fußball-Weltmeisterschaft gut beraten. Solange der Ball in russischen Stadien rollt, kann sich der diesjährige WM-Gastgeber an ungewohnt positiven Schlagzeilen erfreuen. Fans durften sich persönlich davon überzeugen, dass Russland in Wirklichkeit gar nicht so schrecklich ist, wie es so mancher Pressebericht darstellt. Von den Dramen, die sich in vom Spielgeschehen weit entfernten russischen Haftanstalten abspielen, bekommt im WM-Fieber kaum jemand etwas mit. Doch befindet sich der aus der Krim stammende und zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilte Regisseur Oleh Senzow bereits seit dem 14. Mai im Hungerstreik und ist fest entschlossen, nicht aufzugeben, bis er seine Forderung durchgesetzt hat – die Freilassung von 64 ukrainischen Häftlingen.
Es hätte eine schön inszenierte Geste werden können, wenn die russische Regierung, während die Nationalmannschaft siegreich war, wenigstens Senzow und den Anarchisten Oleksandr Koltschenko, der im selben Prozess zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war, an die Ukraine überstellt hätte. Koltschenko hatte sich dem Hungerstreik angeschlossen, ihn jedoch wieder abgebrochen, da er ohnehin gesundheitlich stark angeschlagen war. Als »Terroristen von der Krim« standen sie und zwei weitere junge Männer 2015 vor Gericht, weil sie im April 2014 mehrere Anschläge verübt haben sollen (Jungle World 36/2015).
Tatsächlich wurden durch Brandstiftung die Tür der »Russischen Gemeinde auf der Krim« und ein Fenster des Büros der Partei »Einiges Russland« beschädigt. Personen kamen nicht zu Schaden. Koltschenko stand Wache in der Nähe des Büros – darin erschöpft sich seine Beteiligung. Senzow hingegen war weder an Ort und Stelle, noch konnte nachgewiesen werden, dass er als Ideengeber fungiert habe.
Die Ermittler begnügten sich damals mit der Aussage des Brandstifters, Aleksej Tschirnij, dem einzigen der vier Verurteilten mit einem rechten politischen Hintergrund. Tschirnij hatte Größeres vor, stand allerdings unter Beobachtung des Inlandsgeheimdiensts und kam mit sieben Jahren Haft davon. Unter Folter beschuldigten er und der 2016 freigelassene Gennadij Afanasjew Senzow der Rädelsführerschaft, außerdem behaupteten die Fahnder, Senzow lagere Sprengstoff. Er wird als russischer Staatsbürger behandelt, obwohl in den Gerichtsakten lediglich sein ukrainischer Pass vorliegt. Er erkennt die Annexion der Krim nicht an und verweigerte seine Unterschrift, als er russische Dokumente erhalten sollte. In Haft wurde ihm ein Antrag auf Ablehnung der russischen Staatsbürgerschaft verwehrt.
Erst elf Tage nach Beginn des Hungerstreiks äußerte sich der sichtlich genervte russische Präsident Wladimir Putin nach einem Treffen mit seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron bei einer Pressekonferenz zu dem Fall. Er verglich Senzow mit dem im Mai in der Ukraine wegen Landesverrats festgenommenen Leiter der Nachrichtenagentur RIA Nowosti Ukraina, Kyrill Wyschinskij – ihm wird vorgeworfen, die abtrünnigen ostukrainischen »Volksrepubliken« zu unterstützen.
Im Fall Senzows, für den sich international renommierte Filmemacher wie Ken Loach und Aki Kaurismäki einsetzen, sorgt das russische Justizwesen mit intravenös verabreichten Nährlösungen dafür, dass ihr Häftling mit Sonderstatus so lange wie möglich am Leben bleibt. Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa ging sogar so weit zu behaupten, Senzow habe nach erheblichem Gewichtsverlust wieder zugenommen, eigentlich handele es sich nur um eine Art Fastenkur. Natalja Kaplan, die in der vergangenen Woche ihren Cousin Senzow in der Strafkolonie im sibirischen Labytnangi besuchte, hatte nicht diesen Eindruck. Ihr gegenüber bekräftigte der Regisseur seine Entschlossenheit und sagte, er würde es als Misserfolg werten, sollte nur er aus der Haft befreit werden.
Die ukrainische Regierung präsentierte Anfang Juli für einen möglichen Gefangenenaustausch eine Liste mit 23 russischen Staatsbürgern, die in der Ukraine Haftstrafen absitzen. Einige Tage später erwog sie eine Erweiterung der Liste um 13 Häftlinge mit doppelter Staatsbürgerschaft, darunter auch Wyschinskij.
Aber die russische Regierung scheint es nicht eilig zu haben und versucht offenbar, den Preis weiter in die Höhe zu treiben. Als im Frühjahr über Senzows Begnadigung spekuliert wurde, teilte dessen Anwalt Dmitrij Dinse mit, dass sein Mandant seiner Kenntnis nach in russischen Regierungskreisen als »Superterrorist« gehandelt werde und dem Inlandsgeheimdienst FSB wie ein »Knochen im Hals« stecke. Dinse vermutet Zwistigkeiten im Staatsapparat über das Vorgehen im Fall Senzow, der ein unbequemer Gefangener ist, aber einen hohen Tauschwert hat.
Wladimir Baluch wollte sich mit der Annexion der Krim ebenfalls nicht abfinden. Der Landwirt hisste auf dem Dach seines Hauses auf der Krim eine ukrainische Flagge, brachte noch dazu im Gedenken an die Toten des Kiewer Maidan ein Schild mit der Aufschrift »Straße der Helden der himmlischen Hundert« an und weigerte sich, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. 2017 wurde er wegen des Besitzes mehrerer Patronen zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, Anfang Juli wurde seine Haftstrafe auf fünf Jahre erhöht, weil er gegen den Leiter des Untersuchungsgefängnisses handgreiflich geworden sein soll. Baluch behauptet, es sei umgekehrt gewesen. Im März erklärte er einen unbefristeten Hungerstreik, auf Bitte des orthodoxen Erzbischofs der Krim trinkt er jedoch Tee mit Honig und isst Zwieback.
Die lokalen Strafverfolgungsbehörden konzentrieren sich allerdings auf die Krimtataren. Seit Ende Juni befindet sich Emir-Husein Kuku im Hungerstreik, der seit 2014 nach zahlreichen vermissten Krimtataren suchte und jene juristisch unterstützte, die inhaftiert sind. Wegen Verdachts auf Mitgliedschaft in der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir, die in Russland bislang keinen Anschlag verübt hat, droht ihm eine Haftstrafe von 25 Jahren. Glaubt man den lokalen Behörden, läuft die Urlaubssaison gleichwohl bestens. Eine Million ukrainischer Touristen sollen dieses Jahr bereits die Halbinsel vom Festland her besucht haben, was der ukrainische Grenzschutz allerdings dementiert.
Im Donbass wird hingegen weiter geschossen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellte im Mai und Juni bei allen Konfliktparteien einen rasanten Anstieg von Verstößen gegen das Minsker Abkommen fest, das eigentlich den Frieden bringen sollte. Während international der Einsatz von Blauhelmtruppen debattiert wird, ist an Ort und Stelle keine Annäherung in Sicht. Im Februar unterzeichnete der ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko ein Gesetz zur Reintegration des Donbass, das ihm weitreichende Vollmachten bis hin zu Militäreinsätzen nach eigenem Ermessen gewährt.
In den sogenannten Volksrepubliken stieß der Beschluss erwartungsgemäß auf wenig Begeisterung. Aleksandr Sachartschenko, Regierungschef im abtrünnigen Donezk, stellte unlängst erneut klar, dass aus seiner Sicht nur zwei Lösungsmodelle in Frage kämen: Entweder die Ukraine gebe auf oder sie stimme unter einer neuen Führung direkten Verhandlungen zu. Beides ist unwahrscheinlich.
ute weinmann