1989 sollten Reformen das Sowjetsystem retten. Mittlerweile ist in Russland die Bereitschaft zur Veränderung der Resignation gewichen. Die Macht hat weiterhin nur eine kleine Führungsclique.
Glasnost, Perestroika, Uskorenije – drei Zauberworte einer wenige Jahre andauernden historischen Periode, die den Abschied vom real existierenden Sozialismus eingeleitet hat. Das waren noch Zeiten, als russisches Vokabular im Westen für Progressivität und die naive Hoffnung stand, durch Abmilderung unüberwindlicher Systemwidersprüche der ganzen Welt mehr Sicherheit und Wohlstand zu verschaffen. Und das, obwohl dieses Motto aus dem Parolenproduktionslabor sowjetischer Propagandaexperten stammte, weshalb sie in der Sowjetunion selbst, wenn nicht mit Skepsis, so doch mit Desinteresse aufgenommen wurden.
Sprachlich betrachtet handelte es sich um ein auffälliges Phänomen, zumindest in Deutschland, wo russische Lehnworte selten sind, einmal abgesehen von Soljanka und Towarischtsch. Glasnost und Perestroika sind in den Köpfen hängengeblieben, während uskorenije, die Beschleunigung, längst in Vergessenheit geraten ist. Gemeint war damit in der Frühphase der Perestroika eigentlich, der Sowjetökonomie auf die Sprünge zu helfen, aber zum Ende hin blieb nur noch Beschleunigung übrig. Nicht jedoch im ursprünglichen Sinne, die Grundlagen zu belassen und weiterzumachen wie zuvor, nur eben schneller. Für den Umbau, die Perestroika, war es zu spät. Die rasante Dynamik gesellschaftlicher Umbrüche erreichte ein derartig schwindelerregendes Tempo, dass bereits kurze Zeit später die Jahrzehnte andauernde Macht der Sowjets lediglich Geschichte war.
1989 konnte das freilich noch niemand wissen. Es wehte ein frischer Wind, der Sowjetmief, den Stagnation und privaten Rückzug angesichts der repressiven Bevormundung durch die allgegenwärtige Staatsmacht hervorgebracht hatten, wich einem lange nicht mehr dagewesenen kollektiven Bewegungsdrang. Kein Wunder, zu dem Zeitpunkt waren politische Gefangene größtenteils aus den Straflagern entlassen worden und von unten organisierte Demonstrationen sorgten für offenen politischen Disput auf der Straße. An der Peripherie nahmen nationale Unabhängigkeitsbewegungen nicht nur konkrete Züge an, sondern auch gewalttätige; sie forderten etliche Todesopfer. Aber das änderte nichts daran, dass sich in Moskau politische Vorstellungen im Jahr 1989 noch um eine Transformation des Sozialismus drehten – ob demokratisch, rechtsstaatlich oder der Meinungsfreiheit verbunden.
Es war die Zeit, als man sich allen Ernstes der Illusion hingeben durfte, die politische Tagesordnung zu bestimmen oder zumindest mitzugestalten. Nicht alle machten davon Gebrauch, aber viele. Damals erschien in einer Auflage von über 3 000 Stück die Zeitung Obschtschina (Gemeinschaft), herausgegeben von der Konföderation der Anarchosyndikalisten (KAS) mit ihren etwa 1 200 Mitgliedern. Selbst eingefleischte Liberale kamen nicht umhin, Qualität und Inhalt der mal monatlich, mal alle zwei Wochen erscheinenden Printausgaben anzuerkennen, die durch ihr innovatives Konzept Popularität erlangten. Nachrichten über politische Bewegungen, die in den offiziellen Blättern unter den Tisch fielen, wurden kombiniert mit historischer Analyse und utopischen Beiträgen.
Von Beginn an warnte die Obschtschina, dass die UdSSR, sollte die Perestroika die Wende zum Kapitalismus vollziehen, ein Szenario nach lateinamerikanischem Vorbild erwarte: in der Entwicklung dauerhaft hinterherhinkend, mit einer kleinen Schicht Privilegierter und Superreicher an der Macht. 1990 hatte sich die Suche nach einem neugestalteten Sozialismus de facto erübrigt, die Realität hatte alle eingeholt. Komsomol-Kader verwendeten ihre intellektuellen Ressourcen bereits eifrig für die Aneignung des vormaligen sogenannten Volkseigentums, lernten in Windeseile aus ihren Privilegien Kapital zu schlagen und sich für die bevorstehende Epoche eines zuerst ungezügelten, später dann staatlich kontrollierten Kapitalismus zu rüsten.
Ökonomisch stand ein Großteil der Bevölkerung damals am Abgrund. 1989 setzte die erste Massenstreikwelle im Land ein. Bergleute in Workuta, im Donbass und im sibirischen Kusbass streikten für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Aber vielleicht noch wichtiger war, dass sie sich als politisches Subjekt begriffen und neben der Abschaffung der sowjetischen Verfassung auch die Annullierung der Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten forderten; zumindest hinsichtlich der Quote für Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften und anderer zugelassener Organisationen. Im Vergleich zu früheren Wahlen hatten die relativ freien nationalen Parlamentswahlen vom Frühjahr 1989 durchaus demokratische Züge, aber eben nicht genug.
Diese gingen auf die Initiative des damaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei (KPdSU), Michail Gorbatschow, zurück. Im Nachhinein werten Genossen aus seinen Reihen diesen Schritt als fatalen Fehler.
Nikolaj Ryschkow, der damals den Regierungsvorsitz innehatte und inzwischen mit 89 Jahren Mitglied im russischen Oberhaus ist, vertritt die Ansicht, dass die Grundfesten sowjetischer Machtstruktur nicht hätte aufgeweicht werden dürfen. Es hätte ausgereicht, das Wirtschaftssystem zu reformieren. Ob dies tatsächlich eine gangbare Option dargestellt hätte, sei dahingestellt, wichtig ist in diesem Zusammenhang ein anderer Aspekt: Diese Einschätzung liest sich nämlich beinahe wie eine Doktrin der heutigen russischen Führung, oder, anders gesagt, eine Doktrin des Aussitzens.
Den kapitalistischen Aufbruch der Perestroika und der ersten Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begleiteten Demokratisierungsversuche auf unterschiedlichen Ebenen. Aber schon 1993 ließ der damalige russische Präsident Boris Jelzin auf das Parlament schießen und zeigte damit die Grenzen des Machbaren und von ihm Geduldeten auf. In dem vorgegebenen Rahmen konnte sich immerhin eine freie Presse halten und selbst das Fernsehen bot noch ein gewisses Maß an Pluralität und kritischen Debatten, wie sie heutzutage undenkbar sind. Auch Bergarbeiterstreiks gehören zum Bild der neunziger Jahre – ein letztes Aufbegehren vor dem endgültigen Zerbröckeln gesellschaftlicher Strukturen, die sich im Endeffekt als den vorangegangenen gewaltigen Umbrüchen nicht gewachsen erwiesen.
Eines der wesentlichen Merkmale der Perestroika war die klare Bereitschaft zur Veränderung, ob ohne Kommunismus oder mit Überresten sozialistischen Wirtschaftens. Heutzutage wächst zwar die Unzufriedenheit mit den Zuständen im Land, aber die vorherrschende Resignation wirkt sich derart lähmend aus, dass es leichter ist, relevante Bevölkerungsteile, überwiegend Männer, zum bewaffneten Kampf für eine mythologisch aufgeladene »russische Welt« zu mobilisieren, als vor der eigenen Haustür zu kehren. Eine Politik der kleinen Schritte ist ohnehin fast unmöglich. Unter der nicht enden wollenden Herrschaft Wladimir Putins ist und bleibt Politik das Privileg einer winzigen Führungsclique.
Die Menschen gehen heutzutage eher aus Verzweiflung auf die Straße als in dem Glauben, etwas bewirken zu können. Um wirklich Eindruck zu hinterlassen und den Nachweis zu erbringen, dass politische Aktivität trotz staatlicher Willkür die Durchsetzung eigener Interessen ermöglicht, braucht es offenbar mehr als die zahlreichen, aber oft unkoordinierten Protestaktionen in Russland, von denen viele Außenstehende gar nicht wissen, dass es sie überhaupt gibt. Der Wunsch nach Veränderung geht einher mit der Angst vor ihr. Paradoxerweise trifft dies auch auf die politische Führung zu. Als Dmitrij Medwedjew vier Jahre lang statt Putin aushilfsweise das Präsidentenamt bekleidete, redete er gerne von Modernisierung. Gemeint war damit, Voraussetzungen zu schaffen für den bislang ausgebliebenen Quantensprung der russischen Wirtschaft ins 21. Jahrhundert. Aber davon ist das derzeitige Gesellschaftsmodell in Russland weit entfernt. Putin hat aus der Perestroika die Konsequenz gezogen, keine gesellschaftliche Transformation und keine Lockerung der politischen Macht zuzulassen. Er bevorzugt ein langsames Ende. Heute ist nicht 1989. Aber man kann sich auch täuschen.
ute weinmann