Die drei baltischen Staaten befinden sich in einem Dilemma. Eigentlich sind es sogar mehrere. Sie sind lange genug Mitglied in der Europäischen Union (EU), um deren Vorteile ausgiebig in Anspruch zu nehmen, aber auch, um Skepsis an den Tag zu legen. Nur ein Drittel der Bevölkerung, oder wie in Estland sogar noch weniger, ist der Ansicht, die EU entwickle sich in die richtige Richtung. Andererseits sieht über die Hälfte der EinwohnerInnen keine Alternative zur EU und ist sich sicher, dass ein Austritt keine sinnvolle Option für Problemlösungen auf nationaler Ebene darstellt. Zudem spielen im Baltikum ideelle und politische Faktoren eine tragende Rolle, die in dieser Form in anderen Teilen Europas nicht existieren. Zum einen ist es die geographische Nähe zu Russland einschließlich daraus resultierender historischer Altlasten, die in eine Art wehrhaften Antikommunismus münden, und zum anderen ein den inneren Diskurs prägender hoher russischer Bevölkerungsanteil. In Estland stellt die russische Minderheit ein Viertel der Bevölkerung, in Lettland sogar 27 Prozent. In Litauen sind es lediglich sechs Prozent. Zum anderen kommt EuroskeptikerInnen die enge Verbundenheit des Baltikums mit den USA zugute inklusive der weitverbreiteten Überzeugung, allein die NATO biete der Region eine effektive Verteidigungsstruktur.
Estland
Für Estland mit seinen gerade mal 1,3 Millionen EinwohnerInnen bringt der Brexit einen unverhofften Präsenzgewinn im weit entfernten Europaparlament. Statt sechs dürfen im Mai 2019 gleich sieben Abgeordnete gewählt werden. Auch die Bevölkerungszahl ist im letzten Jahr um immerhin 3.000 Menschen angestiegen. Möglich wurde dies keinesfalls durch geringe Sterbe- oder hohe Geburtenraten, sondern allein durch die Zuwanderung von 5.000 Menschen. Dies mag nach wenig klingen, auch prozentual gesehen liegt Estland damit weit hinter Deutschland zurück. Im Rahmen von EU-Vereinbarungen nahm Estland 206 Geflüchtete auf. Jetzt sollen aus der Türkei weitere 80 folgen, damit sieht die Regierung allerdings ihre Verpflichtungen gegenüber Brüssel erschöpft.
Viele Geflüchtete haben das Land wieder verlassen, der Rest dürfte kaum auffallen. Dennoch bleibt das Flüchtlingsthema im Fokus estnischer NationalistInnen unterschiedlicher Couleur und Herkunft. 2016 machte eine in Finnland gegründete Bürgerwehr von sich reden, die auch in Estland AnhängerInnen fand. Sogenannte »Odin-Krieger« inszenierten sich als Schutztruppe gegen vermeintliche Übergriffe durch kriminelle AsylbewerberInnen. Zumindest einige der »Krieger« sollen jedoch selbst einen kriminellen Hintergrund haben. Im Sommer 2018 begannen sie nach längerer Abwesenheit erneut, in Straßen in Tallinn und anderen estnischen Städten zu patrouillieren, nun allerdings als selbsternannte Ordnungsmacht, die vorrangig das Verhalten Jugendlicher in der Öffentlichkeit kontrolliert. Zwar distanzierte sich die Regierung von der Initiative, doch sprechen sich in Estland eine ganze Reihe von Parteien und Vereinigungen offen gegen Migration aus und sorgen für ein zunehmend migrationsfeindliches Klima. Zudem lehnte die Regierung zunächst die Unterzeichnung des UN-Migrationspaktes ab und lenkte erst nach einem anderslautenden Parlamentsvotum ein.
Im März 2019 stehen in Estland Parlamentswahlen an, welche die Gemüter weitaus mehr bewegen als die zwei Monate später folgenden Europawahlen. Je näher der Termin rückt, desto heftiger fallen die gegenseitigen Vorwürfe im rechtskonservativen Lager aus, wobei im Mittelpunkt tatsächliche oder vermeintliche Vorteilsnahme für russische Interessen steht. Die der Regierungskoalition angehörige »Isamaa« (»Vaterlands-Partei«) beschuldigte die rechtspopulistische »Eesti Konservatiivne Rahvaerakond« (»Estnische Konservative Volkspartei«, EKRE) im Sinne des Kremls zu agieren. Deren Vorsitzender Mart Helme konterte, die politische Konkurrenz sehe wohl die eigenen Pfründe davonschwimmen, angesichts hervorragender Umfragewerte der EKRE um die 18 Prozent. Im Parlament stellt die EU-kritische Partei derzeit noch die kleinste Fraktion, bei den EU-Wahlen 2014 erlangte sie gerade mal vier Prozent. Dies könnte sich jetzt ändern. Im Übrigen tritt die EKRE und ihre Jugendorganisation »Blaue Auferweckung« auch häufig als Demonstrationsveranstalterin in Erscheinung.
Lettland
Mitte März 2018 ging in Lettlands Hauptstadt Riga zum wiederholten Mal der »Marsch der Legionäre« über die Bühne. Mehrere Hundert TeilnehmerInnen fanden sich ein, darunter einige Hochbetagte, die in den Verbänden der lettischen Waffen-SS auf Seiten der Wehrmacht gekämpft hatten. Dieser Marsch ist längst zum – von den Behörden genehmigten – Ritual geworden, an dem sich kaum jemand stört. Am 18. November fand wie jedes Jahr seit 2003 der ebenfalls bereits traditionelle Fackelzug statt. Anlässlich der 100-jährigen Unabhängigkeit Lettlands 2018 beteiligten sich daran 25.000 Menschen, deutlich mehr als sonst. Als Veranstalterin fungierte in beiden Fällen die rechte Partei »Nacionala apvieniba« (»Nationale Allianz«), die nach den Parlamentswahlen 2014 in die Regierungskoalition eintrat.
Präsenz zeigt dabei auch regelmäßig die nationalistische Gruppierung »Tevijas sargi« (»Vaterlandswächter«). Im Frühjahr rief sie dazu auf, die Folgen der Besatzung zu beseitigen und im Land endlich aufzuräumen. Die Polizei sah darin keinen Verstoß gegen geltendes Recht, was der Ko-Vorsitzende des lettischen antifaschistischen Komitees, Josif Koren, heftig kritisierte. Seiner Ansicht nach sei in Lettland jede Form des Nationalismus willkommen. Vor fünfzehn Jahren hätten er und andere Organisationen sich noch über umtriebige extrem rechte Jugendgruppierungen beschwert, die seien jetzt aber längst ins politische Establishment aufgestiegen. Im Herbst 2017 organisierte »Tevijas sargi« einen »Spaziergang« zum östlich von Riga gelegenen Flüchtlingszentrum Mucenieki. Die Drohgebärde vor der Unterkunft war unzweideutig, rief in sozialen Netzwerken jedoch Unmut hervor. Eine Flashmob-Aktion verfolgte das Ziel, die eifrigen Verteidiger nationaler Interessen Lettlands kollektivem Spott auszusetzen.
Migration ist eines der Hauptthemen lettischer NationalistInnen und beschäftigt die Gesellschaft auch über deren Reihen hinaus. Debatten bringen dabei eklatante Widersprüche zutage. So richtet sich Kritik beispielsweise gegen die durch den Wegfall von Visabeschränkungen für UkrainerInnen bedingte Arbeitsmigration. Andererseits soll Lettland mit seiner durch Abwanderung schrumpfenden EinwohnerInnenzahl, die unter zwei Millionen gefallen ist, wieder an Bevölkerung zunehmen, was allein durch Lockangebote an die lettische Diaspora nicht zu bewerkstelligen ist. NationalistInnen beschäftigt gleichzeitig die Frage, wie mit der starken russischen Minderheit umzugehen ist. In diesem Zusammenhang steht vermutlich ein Besuch führender Kader der ukrainischen Partei »Swoboda« (»Freiheit«) und von Olena Semenyaka vom Freiwilligen-Bataillon »Asow«, zuständig für Pressearbeit und internationale Vernetzung, Mitte September 2018. Einen offiziellen Charakter erhielt ihr Aufenthalt durch eine Veranstaltung in der ukrainischen Botschaft in Riga im Beisein einer lettischen Staatsvertreterin. Austausch fand außerdem mit der »Nationalen Allianz« statt.
Anfang Oktober wurde in Lettland ein neues Parlament gewählt. Als Siegerin ging die sozialdemokratische »Saskana«-Partei (»Harmonie«-Partei), die bis vor einiger Zeit durch einen Kooperationsvertrag mit der russischen kremlnahen Partei »Einiges Russland« verbunden war, mit knapp zwanzig Prozent hervor. Doch die Koalitionsbildung gestaltet sich schwierig. Die »Nationale Allianz« musste einen Stimmverlust hinnehmen und erreichte statt über sechzehn Prozent nur noch elf. Ob es bei den Europawahlen im Mai 2019 wieder für einen Sitz reicht bleibt abzuwarten.
Litauen
Flüchtlingspolitik zählte bei den letzten Parlamentswahlen 2016 in Litauen nicht zu den relevanten Themen, wenngleich auch dort nur eine geringe Bereitschaft besteht, Geflüchtete aufzunehmen. Einzig die »Darbo partija« (»Arbeitspartei«), einst von einem litauischen Millionär russischer Herkunft gegründet und bis 2016 in der Regierungskoalition vertreten, bediente im Wahlkampf bestehende Ressentiments. Geholfen hat es der Partei wenig, sie scheiterte in jenem Jahr an der Fünfprozenthürde. Im Europaparlament ist sie derzeit mit einem Sitz vertreten. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen jedoch nicht die Europawahlen, sondern die ebenfalls für Mai 2019 angesetzten Präsidentschaftswahlen. Befürchtungen, Russland könnte die kommende europäische Abstimmung beeinflussen, sind zwar auch in Brüssel zu vernehmen. In Litauen hingegen gehören derlei Argumentationen bereits zum festen Repertoire der politischen Führungsriege, die mit ihren Aversionen gegen den ungeliebten Nachbarstaat nicht zurückhält. Dies geht inzwischen soweit, dass sich konservative Kräfte gegenseitig beschuldigen, im Sinne des Kreml zu agieren.
Im November begannen Lehrkräfte mit Streikaktionen gegen ein neues Lohnsystem im Bildungsbereich, was zur Absetzung der amtierenden Bildungsministerin führte. Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskait? kritisierte die Regierung für ihre harte Haltung, der ihr nahestehende christdemokratische »Tevynes Sajunga« (»Vaterlandsbund«) unterstützte sie und forderte von der Regierung eine Aufschiebung der Haushaltsentscheidungen für 2019, bis die Frage einer möglichen Lohnerhöhung für Lehrkräfte geklärt sei. Regierungschef Saulius Skvernelis, von der regierenden »Lietuvos Valstieciu ir Zaliuju Sajunga« (»Bund der Bauern und Grünen«), wandte sich daraufhin an den litauischen Staatsschutz mit einem Antrag zur Überprüfung der Christdemokraten hinsichtlich einer möglichen Kooperation mit Moskau.
Zur extremen Rechten zählt der »Lietuviu tautininku sajunga« (»Bund der litauischen Nationalisten«), dessen WählerInnenschaft bei der letzten Wahl mit zwei Prozent jedoch recht klein ist und der sich damit kaum Chancen ausrechnen darf, eine tragende politische Rolle zu spielen. Gleichzeitig zeichnen sich sämtliche konservative Parteien in Litauen durch einen ausgeprägten Nationalismus aus und grenzen sich nicht nach Rechts ab, zumal extrem rechte Kleinstparteien dort Aufnahme gefunden haben. Einen Rechtsruck, wie er in vielen westeuropäischen Ländern zu beobachten ist, haben Litauen und mit ihm auch die anderen baltischen Staaten längst vollzogen.
ute weinmann