Das Marihuana, das gar kein Marihuana ist

Ojub Titijew steht in Tschetschenien vor Gericht, weil ihm Drogenbesitz vorgeworfen wird. In Wahrheit soll der russische Menschenrechtler mundtot gemacht werden.

Am 11.  März werden im Prozess gegen Ojub Titijew die Schlussplädoyers der Anklage und des Angeklagten gehalten – doch eigentlich ist längst alles gesagt. Nur das Wesentliche war nicht Bestandteil der Verhandlung. Juristische Verfahren in Tschetschenien drehen sich selten um die Frage nach Schuld oder Unschuld.

Titijew, der 61-jährige Leiter des lokalen Büros der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, muss sich wegen Besitz von 207,84  Gramm Marihuana vor einem Gericht in Schali, südöstlich der Hauptstadt Grosny, verantworten, aber sein tatsächliches Vergehen besteht darin, dass er sich seit fast zwei Jahrzehnten akribisch um die Aufklärung von Missständen in der zur Russischen Föderation gehörenden Nordkaukasusrepublik bemüht. Zwar gilt dort formal das gleiche Recht wie in allen anderen Landesteilen, Anwendung finden jedoch die ungeschriebenen Gesetze ihres Präsidenten Ramsan Kadyrow. Wer diese nicht befolgt, muss mit Konsequenzen rechnen. Schlimmstenfalls mit dem Tod.

Mit diesen Zuständen sah sich auch Titijew konfrontiert, als 2009 seine couragierte Kollegin Natalja Estemirowa ermordet wurde. Das Engagement für die Menschenrechte barg eigentlich zu hohe Risiken, als dass eine Fortsetzung ihrer Tätigkeit zu verantworten gewesen wäre. Titijew sah das aber anders und übernahm die Leitung von Memorial. Im Unterschied zur bisherigen Praxis suchte er nicht den trügerischen Schutz der Öffentlichkeit, sondern setzte auf leise Töne. Das mag auch eher seinem Charakter entsprechen: Bekannte beschreiben ihn als still, standfest und gewissenhaft. Nach Estemirowas Ermordung soll er in seinem Arbeitseifer regelrecht obsessive Züge entwickelt haben.

Entführungen und Folter

Hätten in Tschetschenien nicht zwei zermürbende und opferreiche Kriege stattgefunden, die letztlich zur Etablierung von Ramsan Kadyrows Gewaltherrschaft geführt haben, wäre Ojub Titijew womöglich Sportlehrer und Boxtrainer geblieben. Stattdessen begann er, von den Umständen getrieben, mit der Suche nach Vermissten, deckte Entführungen, Folter und die Ermordung von Menschen durch den tschetschenischen Sicherheitsapparat auf. Im Januar 2017 gab es nach Angaben der Zeitung «Nowaja Gaseta» eine regelrechte Hinrichtung von mindestens 27  Personen. Memorial stellte dazu eigene Recherchen an.

Später machte die Folter Homosexueller Schlagzeilen, die USA verhängten Sanktionen gegen Kadyrow. Besonders erbost soll dieser über die Blockierung seines Instagram-Accounts gewesen sein, über den er Millionen von FollowerInnen seine grenzenlos scheinende Macht demonstrierte. Die Verantwortung für diesen Platzverweis schrieb die tschetschenische Führung «Pseudomenschenrechtlern» zu.

Am 9.  Januar 2018 war es schliesslich so weit: Eine Polizeipatrouille durchsuchte Titijews Wagen – und behauptete anschliessend, darin Drogen sichergestellt zu haben. Titijew erhob Einspruch angesichts der gegen alle Vorschriften verstossenden Begleitumstände seiner Festnahme. Die weiteren Ermittlungen weckten einen Verdacht, der sich im Verlauf des Gerichtsprozesses erhärtete: Die Anklage stützt sich nicht auf Fakten, sondern schlicht auf die politische Vorgabe, Titijew aus dem Verkehr zu ziehen. Ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Seilspringen beim Hofgang

«Mich haben die Menge fingierter Beweismittel und das Ausmass ihrer tölpelhaften Herstellung erstaunt», sagt Alexander Tscherkassow, Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial. «Beispielsweise wurden die angeblich bei Titijew sichergestellten Drogen in eine zweite Plastikhülle gepackt, die bei der späteren Entnahme fehlte. Stattdessen waren Haare von Titijew mit Klebeband an der Verpackung befestigt.» Fingerabdrücke des Angeklagten gab es darauf allerdings keine.

Dutzende Polizeiangehörige sagten als Zeugen vor Gericht aus, ohne zur Sache etwas beitragen zu können. Die Ermittlungsbehörde leugnete absurderweise, jemals etwas von einer Polizeieinheit mit dem Kürzel GBR gehört zu haben, die die Drogen bei Titijew gefunden haben will. Als die Verteidigung auf Instagram publizierte Fotos von Polizisten mit entsprechenden Aufnähern präsentierte, wurden diese gelöscht. Fündig wurden die Anwälte allerdings auch auf offiziellen Nachrichtenseiten.

Besonders bizarr waren die Ergebnisse eines Ende Januar vorgebrachten Gutachtens, wonach sich nicht einmal eindeutig feststellen lasse, dass es sich beim Hauptbeweisstück überhaupt um Marihuana handelt. Immerhin durften dessen VerfasserInnen ihre Zweifel an der Einstufung des angeblich gefundenen Marihuanas vor Gericht mündlich vortragen. In die Akten fand die Expertise jedoch keinen Eingang. Wie auch alle anderen zahlreich von der Verteidigung vorgelegten Unterlagen.

Als passionierter Sportler hält sich Ojub Titijew derweil durch Liegestütze und imitiertes Seilspringen beim Hofgang auf einem zwei mal drei Meter kleinen Areal fit. «Er ist in bester körperlicher und moralischer Verfassung», sagt Tscherkassow. Ende März wird das Urteil erwartet.

ute weinmann

WOZ

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