In der russischen Taiga soll in einem ökologisch empfindlichen Gebiet eine Mülldeponie für Abfälle aus dem 1 200 Kilometer entfernten Moskau entstehen. Die lokale Bevölkerung protestiert dagegen, weil sie Umweltschäden befürchtet.
Mitten in der einsamen Weite der russischen Taiga liegt Schijes. Schon lange ist der an der Grenze des Oblasts Archangelsk zur benachbarten Republik Komi gelegene Ort unbewohnt. Früher gab es in der Gegend sogenannte Sondersiedlungen, in die Russlanddeutsche vor dem Zweiten Weltkrieg umgesiedelt worden waren. Heute sind nur noch wenige von ihnen hier ansässig. Bis in die Stadt Archangelsk sind es von Schijes aus über 700 Kilometer, bis Moskau 1 200 Straßenkilometer.
Seit kurzem legt der Personenzug von dort in Schijes, auf halber Strecke nach Workuta, wieder einen kurzen Halt ein. Allerdings weniger, um Reisenden Zugang zu unberührter Natur zu gewähren, als um gelegentlich Arbeiter an der Station abzusetzen und wieder einzusammeln. Denn in Schijes soll eine riesige Mülldeponie für Abfälle aus der Hauptstadt entstehen.
Seit Februar tobt deshalb ein Kampf, dessen Ende nicht absehbar ist. Menschen aus den Dörfern im Umland, aber auch aus Archangelsk und Syktywkar, der Hauptstadt von Komi, protestieren gegen die geplante Halde. Sie fürchten, dass die Lagerung von Müll zu gravierenden Umweltschäden in dem moorigen und torfhaltigen Waldgebiet führen und damit ihre Lebensgrundlage zerstören könnte. Ein Protestlager undWachposten an strategisch wichtigen Punkten besetzen die Deponiegegner rund um die Uhr, um die Zufuhr von Treibstoff und Baumaterialien über unbefestigte Waldwege auf das Bauterrain zu unterbinden. Die Benzinversorgung für die Bauarbeiten lässt sich derzeit fast nur noch per Hubschrauber aufrechterhalten. Es kam zu tätlichen Auseinandersetzungen mit Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste, es gab Verletzte, ein Schlägertrupp aus der Stadt tauchte zu Einschüchterungszwecken auf. Aber die lokale Vernetzung der Deponiegegner funktioniert so gut, dass in kürzester Zeit über 40 Männer auf den SOS-Notruf aus dem Camp reagierten und die aggressiven Eindringlinge in die Flucht schlagen konnten. Am Vorabend des 1. Mai trafen schließlich bewaffnete Nationalgardisten ein – die Protestierenden rechneten mit der Stürmung ihrer Stützpunkte, aber noch ist es wohl nicht so weit.
In Moskau fallen jährlich über sieben Millionen Tonnen Hausmüll an, von denen nur ein geringer Anteil recycelt wird. Mülldeponien im Umland haben ihre Aufnahmekapazität längst überschritten, die Betreiber erzielen durch Nichteinhaltung von Sicherheitsstandards Millionengewinne, während Anwohner über verpestete Luft und gelegentliche Vergiftungserscheinungen klagen. Im Frühjahr 2018 kam es in Wolokolamsk und anderen Städten im Umkreis Moskaus zu lautstarken Protesten, die Hausdurchsuchungen und Strafermittlungen gegen Umweltschützer und lokale politische Führungsfiguren nach sich zogen. Aleksandr Schestun, der direkt gewählte Vorsitzende des Deputiertenrats von Serpuchow bei Moskau, stellte sich auf die Seite der Protestierenden und sitzt seit Juni vergangenen Jahres in Untersuchungshaft, vorgeworfen werden ihm Überschreitung von Amtsvollmachten, Betrug und Korruption.
Seit Anfang 2019 regelt eine Gesetzesreform den Umgang mit Abfällen neu, was dazu beitragen soll, Russlands Müllberge zumindest nicht mehr im bisherigen Ausmaß weiter wachsen zu lassen. Der geplante »Ökotechnopark Schijes« ist für eine Kapazität von 500 000 Tonnen Abfall jährlich ausgelegt. 5 000 Hektar Waldfläche werden dafür benötigt. Für den Bau zeichnet die Moskauer Firma Technopark verantwortlich. Deren Generaldirektor Denis Sidelnikow sagte Ende Januar bei einer Anhörung vor Ort, dass es bei dem Projekt in erster Linie um die Entwicklung einer strukturschwachen Region, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Anhebung des Lebensstandards gehe. Auch Müllverarbeitung mit Hilfe moderner Technologien stellte er in Aussicht und verwies dabei auf deutsches und schwedisches Know-how. Doch das Unternehmen will der bisherigen Planung zufolge den Restmüll nur in gepressten Pellets lagern und nicht weiterverarbeiten, wie es in Schweden geschieht. Den für die Anhörung für zwei Stunden gemieteten Saal durften nur extra angekarrte auswärtige Befürworter der Anlage betreten, während Deponiegegner, selbst Vertreter der Lokalverwaltung, vor geschlossenen Türen ausharren mussten.
Seit vergangenem Sommer finden Messungen, Waldrodungen und andere Vorbereitungen für den Bau statt. Dafür liegen weder Genehmigungen vor, noch ist die lokale Bevölkerung nach ihrer Meinung gefragt worden. Im nächstgelegenen Ort, dem 20 Kilometer entfernten Madmas, befindet, haben sich viele mit der geplanten Müllhalde abgefunden, weil dort bereits jetzt Arbeitsplätze entstehen. Gezahlt werden umgerechnet mindestens 600 Euro pro Monat, in der Region ist das ein sehr hoher Lohn. Ein Stück weiter liegt die Arbeitersiedlung Urdoma mit über 4 000 Einwohnern; durch sie verläuft eine wichtige Pipeline, die zum Gaszuliefersystem für das Großprojekt Nord Stream 2 zählt. Wegen der guten Beschäftigungslage und akzeptabler Löhne besteht dort, mit wenigen Ausnahmen, kein Interesse an der Lagerung des Mülls aus Moskau. An Protestkundgebungen nahm ein Viertel der Bewohner teil, im Landkreis unterzeichnete fast die Hälfte der Einwohner eine Petition gegen das Bauprojekt auf einem Territorium, das bis vor kurzem noch als zukünftiges Schongebiet ausgeschrieben war.
Aber Reden und Petitionen führten bislang zu nichts. Auch die Gerichte haben zugunsten der zukünftigen Betreiber entschieden. Erst kürzlich scheiterte die staatliche Umweltaufsichtsbehörde mit ihrer Klage, weil die Richter der Auffassung des Unternehmen Technopark folgten, dass gar keine umfangreichen Bauarbeiten stattfänden. Bleibt also nur ziviler Widerstand vor Ort und lautstarker Protest. In Archangelsk versammelten sich bei Kundgebungen nie weniger als 3 000 Teilnehmer. Arbeiter der Werft und Rustüngsfabrik Sewmasch in Sewerodwinsk bei Archangelsk, wo eine weitere Mülldeponie in Planung ist, hängten während einer Live-Sendung mit Präsident Wladimir Putin gut sichtbar ein riesiges Plakat auf mit der Forderung, dessen Gefolgsmann, Igor Orlow, den Gouverneur der Region Archangelsk, abzusetzen. Die Behörden versuchen, mit Strafen und Anzeigen gegen protestierende Deponiegegner vorzugehen.
ute weinmann